Folge: 1143 | 8. November 2020 | Sender: WDR | Regie: Max Zähle
So war der Tatort:
Nahtödlich.
Denn Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) wird in diesem Tatort so übel mitgespielt wie in kaum einer zweiten Folge: Nach einem schweren Autounfall, der gezielt herbeigeführt wurde, fällt der Rechtsmediziner ins Koma – und das Publikum darf eineinhalb Stunden lang um sein Leben zittern.
Das allein wäre noch nicht außergewöhnlich – in Lebensgefahr schwebende oder ans Krankenbett gefesselte Ermittler gab es im Tatort schließlich schon unzählige Male (etwa in Willkommen in Hamburg oder Unvergessen) und auch Boerne musste seit seinem Dienstantritt im Jahr 2002 schon einiges wegstecken. Nein. Limbus ist aus anderen Gründen die vielleicht bemerkenswerteste Tatort-Folge aus Münster überhaupt.
Experimente scheut der WDR bei der einmaligen (und sehr gut bezahlten) Erfolgswelle, auf der Boerne und Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) seit fast zwei Jahrzehnten schwimmen, eigentlich wie der Teufel das Weihwasser – doch Drehbuchautor Magnus Vattrodt (Für immer und dich) liefert den Beleg, dass man auch in Münster originelle und spannende Geschichten erzählen kann. Er schickt Boerne zwar nicht direkt zum Teufel, pardon: zur "Geschäftsführung", aber in dessen Vorzimmer – die Vorhölle.
In den Limbus.
Dort sitzt ein sturer Schalterbeamter (Axel Prahl in einer Doppelrolle) und macht dem Neuankömmling keine Hoffnung, je wieder in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Auch Nadeshda Krusenstern (Friederike Kempter), die im umstrittenen Impro-Tatort Das Team das Zeitliche segnete, ist schon auf der Schwelle ins Jenseits angekommen – hat sich aber in der Abteilung geirrt. Denn anders als Boerne soll sie schließlich in den Himmel kommen.
Eine großartige Idee – und unheimlich rührend umgesetzt.
BOERNE:Was machen Sie denn hier?KRUSENSTERN:Ach, fragen Sie mich was Leichteres. Man sagt mir ständig, mein Fall wird bearbeitet, und dann sitz ich wieder wochenlang nur rum...
Dass Krusensterns Tod zwar amüsant in der titelgebenden Vorhölle, aber nicht im Alltag auf dem Präsidium thematisiert wird, ist neben der unnötigen – und mit der vom Stammpublikum gewünschten Liefers-Prahl-Interaktion zu erklärenden – Prahlschen Doppelrolle zugleich das größte Ärgernis in diesem Tatort. Das wird der Figur, die seit dem Erstling Der dunkle Fleck fast 20 Jahre zum festen Ensemble zählte, nicht gerecht.
Im Mittelpunkt dieser ansonsten so großartigen und wendungsreichen Folge – und das ist typisch für den Tatort aus Münster – steht Boerne, und da ist neben dem Bangen um den Professor kein Platz für weitere Trauer. Thiel, Assistentin Silke "Alberich" Haller (Christine Urspruch) und Staatsanwältin Wilhelmine Klemm (Mechthild Großmann) scheint Krusensterns Ableben ebenso wenig zu tangieren wie Herbert "Vaddern" Thiel (Claus Dieter Clausnitzer) oder ihren noch blassen Nachfolger Mirko Schrader (Björn Meyer, vertrat Friederike Kempter bereits in Spieglein, Spieglein).
Ansonsten machen die Filmemacher aber einen erstklassigen Job: Das Drehbuch findet die anspruchsvolle Balance zwischen wohldosierten Gags, pfiffig-experimentellen Ideen und todernster Dramatik. Die Geschichte hat Herz und wird mitreißend erzählt. Regisseur Max Zähle, zum ersten Mal für die Krimireihe am Ruder, setzt das Ganze bis zum fiebrigen Showdown stimmungsvoll in Szene und trifft fast immer den richtigen Ton.
Wann durften wir in Münster je so mitfiebern und mitfühlen?
Antriebsfeder der Handlung ist neben Boernes Überlebenskampf auch das falsche Spiel von Hochstapler Dr. Jens Jacoby (Hans Löw, Lass den Mond am Himmel stehn), der den Professor in der Rechtsmedizin vertritt: Jacoby führt alle an der Nase herum und geht dabei über Leichen, ehe "Alberich"& Co. ihm auf die Schliche zu kommen drohen. Basierend auf wahren Ereignissen und keine ganz neue Idee – aber ein Garant für viele Spannungsmomente.
Auf das humorvoll angereicherte Wechselspiel zwischen den Welten – Boerne flüchtet immer wieder aus dem Limbus und versucht in bester Ghost: Nachricht von Sam-Manier verzweifelt, Kontakt zu den Lebenden aufzunehmen – muss man sich allerdings einlassen können: Der 1143. Tatort hätte mit seinem elegant arrangierten, wenn auch nicht immer hundertprozentig logischen Wechselspiel aus Realität und Nahtoderfahrung auch hervorragend nach Wiesbaden oder zum Polizeiruf aus München gepasst.
Wer auf eine seichte Krimikomödie und einen harmlosen Whodunit nach bewährtem Erfolgsrezept hofft, kann daher schnell die Lust an diesem Film verlieren – normalerweise wissen wir schließlich schon vor dem Einschalten, was uns bei Thiel und Boerne erwartet. Die Täterfrage wird diesmal aber nicht gestellt, die Suche nach der richtigen Auflösung bleibt den Ermittlern vorbehalten – und das Publikum kommt anderweitig auf seine Kosten.
So ist Limbus der originellste, beste und faszinierendste Münster-Tatort seit Jahren – wer hätte das nach den unzähligen Schmunzelkrimis auf Autopilot noch für möglich gehalten.