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Channel: Wie war der Tatort?
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Leben Tod Ekstase

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Folge: 1213 | 16. Oktober 2022 | Sender: HR | Regie: Nikias Chryssos
Bild: HR/Bettina Müller
So war der Tatort:

Psychedelisch.

Denn in Leben Tod Ekstase, dessen Filmtitel wie bereits der des enttäuschenden Frankfurter Vor-Vorgängers Luna frisst oder stirbt auf einem Buchtitel seiner schreibfreudigen Hauptfigur basiert, dreht sich alles um eine Koryphäe auf dem Gebiet der Psycholyse: Der umstrittene Psychoanalytiker Dr. Adrian Goser (gespielt vom früheren Leipziger Tatort-Kommissar Martin Wuttke) hat sich mit großem Erfolg der Psychotherapie mit Psychedelika und psychonautischen Methoden verschrieben.

Liest sich ganz schön psycho, und genau das ist dieser Krimi auch: Schon die Eröffnungssequenz, in der Goser mit sechs Patienten zu stroboskopischem Rotlicht-Stakkato einem exzessiven Drogenrausch frönt, dürfte so manchen Tatort-Puristen direkt zum Abschalten bewegen. Dass anschließend sechs Leichen zu beklagen sind und die Hauptkommissare Anna Janneke (Margarita Broich) und Paul Brix (Wolfram Koch) auf den Plan rufen, ist dann fast noch das Klassischste, was die 1213. Ausgabe der öffentlich-rechtlichen Krimireihe zu bieten hat. Dieser Film schert sich nicht einmal um die Chronologie.

Vielmehr testet und sprengt der Hessische Rundfunk zum wiederholten Male mit einem schrägen Tatort-Experiment die Grenzen des Erfolgsformats: Der Psychokrimi aus der Feder der Drehbuchautoren Michael Comtesse (Unsichtbar) und Nikias Chryssos, der bei seinem Tatort-Debüt auch Regie führt, ist unterm Strich völlig drüber. Sowas hat in der Vergangenheit schon hervorragend funktioniert (zum Beispiel als Martin Wuttke in Wer bin ich? ein herrlich selbstironisches Tatort-Comeback feierte), manchmal aber auch überhaupt nicht (zum Beispiel in Fürchte dich, der zum Fürchten schlecht war).

Und diesmal?

Diesmal geht die Rechnung auf, denn die Filmemacher arrangieren eine unterhaltsame Kreuzung aus klassischem Whodunit, brutalem Home-Invasion-Thriller, satirisch angehauchter Action und Motiven aus dem Gruselkabinett. Atmosphäre und Score sind düster, mystisch und stets geheimnisvoll. Was wird das hier Verrücktes? Humorvoll angereichert wird der wilde Parforceritt durch die Genres mit augenzwinkernden Running Gags um die vielfältig-vielsagende Filmografie von Arnold Schwarzenegger, einem bärenstarken Cast und der vielleicht originellsten Waffe, derer sich je ein Tatort-Kommissar in Not bedienen durfte.


GOSER:
Der Penis eines Blauwals gilt als der größte der Welt. Hab ich ihn gefunden oder er mich? Ich war mir nie sicher. Nun hat er Ihnen als Waffe gedient, um mich zu retten.


Leben Tod Ekstase ist ein außergewöhnlicher, ein abgefahrener Tatort, auf den man sich einlassen muss – wer das nicht kann, wird wenig Freude an diesem Stück finden. Der Film will polarisieren und polarisiert. Dabei ist die erste Krimihälfte noch vergleichsweise harmlos und entsprechend zäh: Janneke und Brix, die Gosers Methoden gegenüber (klassischerweise) nicht gleichermaßen aufgeschlossen sind, stellen nach dem Fund der Leichen die üblichen Überlegungen an, machen eine Stippvisite im Knast (Anspielung auf die Steven-King-Verfilmung "The Green Mile" inklusive) und holen sich Tipps in der Kneipe von Brix' Mitbewohnerin Fanny (Zazie de Paris). Dort treffen sie auch den diesmal nur mit einem Kurzauftritt gesegneten Kollegen Jonas (Isaak Dentler). Hallo, Leute.

Schon hier startet nach einem Zeitsprung von 10 Tagen der ständige Wechsel zwischen den zeitlichen Erzählebenen, der uns viel Mitdenken abverlangt – und nach 45 Minuten und einem kuriosen Wendepunkt wandelt sich der Film plötzlich zum fiebrigen Katz-und-Maus-Spiel auf begrenztem Raum. Ab diesem Zeitpunkt spielt der Tatort fast nur noch in Gosers mehrgeschossiger Villa – ein reizvoller Mikrokosmos voller Überraschungen, der doppelte Böden und Wände birgt, mehrere Leichen auftürmt und den schaurig-schrägen Geisterbahn-Export John (Pit Bukowski, Der böse König) in seinem muffigen Keller weiß. Was für ein denkwürdiger Auftritt – und was für ein denkwürdiger Abgang.

In der großartigen, wenn auch stellenweise sehr irritierenden zweiten Filmhälfte entwickelt sich der 1213. Tatort dann auch zur grandiosen Martin-Wuttke-Show: Der frühere Lebensgefährte von Hauptdarstellerin Margarita Broich (seit 2018 gehen die beiden getrennte Wege) brilliert mit seinem Facettenreichtum als schlagfertiger, leicht wahnsinniger Exzentriker, führt die Ermittler in seiner Rolle mit feinem Humor aufs Glatteis und scheint das ganze Drama um ihn herum gar nicht ernst zu nehmen. Das sollte man auch als Zuschauer nicht tun, denn ein Abbild einer möglichen Realität will dieses furiose Tatort-Experiment zu keinem Zeitpunkt sein. Dafür unterhält es ganz ausgezeichnet.

Bewertung: 7/10




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