Folge: 1239 | 29. Mai 2023 | Sender: ORF | Regie: Dominik Hartl
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Bild: ARD Degeto/ORF/Darryl Oswald |
So war der Tatort:
Georgisch.
Der Wiener Oberstleutnant Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Majorin Bibi Fellner (Adele Neuhauser), die bei bei ihrem 31. gemeinsamen Einsatz auf ihre Kollegin Meret Schande (Christina Scherrer) verzichten müssen, bekommen es in diesem Austro-Tatort nämlich mit der georgischen Mafia zu tun – und mit der ist nicht zu spaßen. Geldwäsche, Menschenhandel, Drogen: das Übliche eben.
Die Geschichte dreht sich um den mächtigen Datviani-Clan: Einst nach dem Zerfall der Sowjetunion nach Österreich übergesiedelt, ist der studierte Clanchef Beka Datviani (Lasha Bakradze) mittlerweile der gewiefte und gefürchtete Kopf des Syndikats, sein Bruder Luka Datviani (Temiko Chichinadze) der Mann fürs Grobe. Einleitend wird Luka auf einem Nachtclub-Parkplatz erschossen – und geht es nach Eva Brunner (Zeynep Buyrac), der forschen Kollegin vom Wirtschaftsdezernat, ist auch sonnenklar, wer für seinen Tod verantwortlich ist: sein Bruder Beka.
Diese Schlussfolgerung präsentiert sie Eisner und Fellner nach zehn Minuten – die Geschichte ist damit allerdings nicht vorbei, sondern geht erst richtig los. Denn da ist ja noch Azra, die titelgebende Figur, die Eisner einleitend "puppit" und diesem Tatort so markant ihren Stempel aufdrückt, dass man sich wünschen würde, es möge nicht ihr letzter Auftritt im Wiener Fadenkreuzkrimi gewesen sein: Als verdeckte Ermittlerin in Tarnung einer Türsteherin im Clan eingeschleust, soll sie dem Bundeskriminalamt Beweise liefern, um Beka Datviani einzulochen. BKA gegen Beka.
Die reizvolle Zusammenarbeit mit der frechen Azra (überragend: Mariam Hage), die aus einer Junkiefamilie stammt und einst von Eisner als V-Frau angeworben wurde, dominiert die etwas hastig vorgetragene erste Filmhälfte – die in der Krimireihe so häufig zu beobachtenden, meist ermüdenden Grabenkämpfe zwischen den Dezernaten spart Drehbuchautorin Sarah Wassermair in ihrem ersten Tatort allerdings aus. Auf das Reingrätschen von Ernst Rauter (Hubert Kramar) verzichtet sie hingegen nicht: "Ernstl" weist Eisner und Fellner mit mahnendem Zeigefinger in die Schranken, vermag aber einmal mehr keinen Keil zwischen die beiden zu treiben.
RAUTER:Ich wüsste gern, was er tun muss, dass du ihn nicht mehr in Schutz nimmst.FELLNER:Sterben?
Dass sich der Austro-Tatort im Milieu der organisierten Kriminalität glaubwürdig zu bewegen und spannende Krimis daraus zu stricken weiß, hat er in den Jahren zuvor schon häufig bewiesen – etwa in Pumpen, in Die Kunst des Krieges oder in Angezählt. In Wien gelingt den Filmemachern das besser als in anderen Tatort-Städten; zuletzt scheiterten etwa Zürich (mit Seilschaft) und Hamburg (mit Macht der Familie) an dieser Herausforderung.
Mit Blick auf die Charakterzeichnung und die Strukturen des Clans ist der 1239. Tatort aber etwas schwach auf der Brust: Die Nebenfiguren bleiben – Azra ausgenommen – recht eindimensional, was ein Stück weit immer dem Format und der knappen Spielzeit geschuldet ist (aber nicht zwingend so sein muss, vgl. Brüder von 2014). Während sich der aufbrausende Irakli Datviani (Vladimir Korneev, Der Herr des Waldes) zumindest einen schmerzhaft-amüsanten Fight mit der V-Frau liefert, ist seine Schwester Tinatin Datviani (Mariam Avaliani) klar die schwächste Figur dieses Krimis. Ihr Anspruch auf die Thronfolge im Clan bleibt blanke Behauptung, ihr angeblicher Einfluss ist nie spürbar.
Was Azra dennoch zu einem bemerkenswerten und erinnerungswürdigen Tatort macht, ist neben der mit Zeitsprüngen und vertauschter Chronologie aufgelockerte Dramaturgie vor allem das starke offene Ende (das wir → hier näher erörtern): Als klassischer Whodunit startend, wandelt sich der Krimi unter Regie von Dominik Hartl, der sein Debüt für die Krimireihe gibt, nach zehn Minuten und dem Auftauchen der V-Frau zum fiebrigen Howcatchem und klassischen Thriller. Am Ende schließt er satte zehn Minuten früher als üblich und wiegt sein Publikum in falscher Sicherheit. Denn da ist noch etwas, das Bibi Fellner nicht ruhig schlafen lassen würde...
... und so platzieren die Filmemacher einen finalen Twist, der für Genrekenner zwar nicht überraschend kommt, aber seine Wirkung nicht verfehlt. Am Ende stellt der Wiener Tatort hochinteressante moralische Fragen in den Raum – und statt uns die Antworten vorzukauen, lassen uns Eisner und Fellner für einen kurzen Moment damit allein. Das mag für manchen im ersten Moment unbefriedigend sein, ist aber vielleicht die wirkungsvollste Form eines Denkanstoßes.
Bewertung: 7/10
👀 Offenes Ende: Wie wir den Tatort-Schluss interpretieren
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📅 Ausblick: Dieser Tatort läuft am nächsten Sonntag