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Channel: Wie war der Tatort?
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Die Musik stirbt zuletzt

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Folge: 1063 | 5. August 2018 | Sender: SRF | Regie: Dany Levy
Bild: SRF/Hugofilm
So war der Tatort:

Frei von jedem (sichtbaren) Schnitt. Und damit ist der heimliche Star im 13. Tatort mit den Luzerner Hauptkommissaren Reto Flückiger (Stefan Gubser) und Liz Ritschard (Delia Mayer) Kameramann Filip Zumbrunn: Der Schweizer Filmemacher, der anders als Regisseur Dany Levy (Schmutziger Donnerstag) zum ersten Mal für die Krimireihe am Ruder sitzt, hat die Handlung in einer einzigen Einstellung gedreht, wie wir es aus Sebastian Schippers Drama Victoria, Alejandro González Iñárritus Oscar-Gewinner Birdman oder Alfred Hitchcocks Kammerspiel Cocktail für eine Leiche kennen. Angesichts der großen Abendveranstaltung im Kultur und Kongresszentrum Luzern (KKL), bei der Flückiger und Ritschard live ermitteln, ergeben sich auch Parallelen zum spektakulären Establishing Shot in Brian De Palmas Thriller Spiel auf Zeit - eine visuell außergewöhnliche Krimi-Erfahrung, wie man sie im Tatort bis dato noch nicht zu sehen bekommen hat. Der schwerreiche Unternehmer Walter Loving (charismatisch: Hans Hollmann) hat das Jewish Chamber Orchestra für ein feierliches Charity-Event engagiert, bei dem die jüdische Pianistin Miriam Goldstein (Teresa Harder, Letzte Tage) ein Geheimnis lüften möchte - doch als ihr Bruder Vincent (Patrick Elias, Die Frau im Zug), der im Orchester die Klarinette spielt, vergiftet wird und um sein Leben ringt, ruft das zunächst Ritschard auf den Plan, die zufällig vor Ort ist und Flückiger herbeizitiert. Neben der spannenden Echtzeit-Jagd auf den Täter eröffnen die Filmemacher auch eine ironisch angehauchte Meta-Ebene - und zwar in Person von Lovings schnöselig-arrogantem Sohn Franky (Andri Schenardi, Schmutziger Donnerstag), der immer wieder zum Zuschauer in die Kamera spricht und das turbulente Tatort-Experiment süffisant kommentiert.
Loving: "Ende gut, alles gut. Ein bisschen kürzer als andere Tatorte, aber immer noch okay."
Dieses Durchbrechen der vierten Wand ist nicht die einzige Parallele, die sich zum Wiesbadener Meisterwerk Im Schmerz geboren ergibt: Wie in der mit dutzenden Zitaten und popkulturellen Anspielungen durchsetzten Shakespeare-Italo-Western-Krimi-Oper von 2014 gibt es auch in Die Musik stirbt zuletzt eine elegant eingeflochtene Südamerika-Rückblende zu sehen und reichlich klassische Musik zu hören. Blieben beim Krimi mit Felix Murot (Ulrich Tukur) neben den herausragenden Schauspielern vor allem der fantastische Soundtrack des HR-Sinfonieorchesters, die tolle Regie und das geniale Drehbuch in Erinnerung, so ist es im 1063. Tatort eindeutig der schnittfreie Ritt durchs KKL, auf den die Kamera den Zuschauer mitnimmt und dabei spielerisch temporeiche Verfolgungsjagden, Dialogsequenzen vor großen Spiegeln und weitere Herausforderungen meistert. Rein handwerklich spielt Luzern (anders als sein Fußballclub, dessen blaues Fan-Shirt Flückiger stolz durch den Krimi trägt) damit in der Champions League - wem die wackelige Ästhetik und das unübersichtliche Setting zu anstrengend ist oder wem der Bruch mit den gewohnten Erzählmustern übel aufstößt, wird am Film aber nur wenig Freude finden. Weil die Auflösung bis in die Schlussminuten ungeklärt bleibt und auch die Besetzung über jeden Zweifel erhaben ist, kommen experimentierscheue Zuschauer aber zumindest ein Stück weit auf ihre Kosten: Der grandios aufspielende Hans Hollmann wächst in der anspruchsvollen Rolle als wohlhabender Stiftungseigner mit unklarer Vergangenheit über sich hinaus und auch Sibylle Canonica (Das Recht, sich zu sorgen), die 2011 im hochspannenden Kieler Tatort Borowski und die Frau am Fenster als eiskalte Mörderin brillierte, liefert als Ex-Gattin Alice Loving-Orelli eine starke Performance ab. Ein großes Kompliment gebührt auch den vielen Nebenschauspielern, Statisten und helfenden Händen bei den Dreharbeiten: Wie bei einer Theateraufführung wurde Die Musik stirbt zuletzt an nur vier Abenden ohne jede Unterbrechung abgedreht - eine Meisterleistung an Logistik und Improvisation, von der im besten Schweizer Tatort aller Zeiten anders als in den krachend gescheiterten Ludwigshafener Impro-Experimenten Babbeldasch und Waldlust so gut wie nichts zu spüren ist.

Bewertung: 9/10

Die robuste Roswita

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Folge: 1064 | 26. August 2018 | Sender: MDR | Regie: Richard Huber
Bild: MDR/Wiedemann&Berg/Anke Neugebauer
So war der Tatort:

Reich an Kartoffeln, Kalauern und Klößen - und zugleich um einen Weimarer Kloßkönig ärmer. Denn Christoph Hassenzahl (Matthias Paul), Geschäftsführer einer traditionsreichen Kloßmanufaktur, liegt einleitend tot in einem seiner Firmenwagen - besser gesagt das, was von ihm übrig ist, weil sein Mörder die Leiche zu Granulat verarbeitet und transportfreundlich in einem Karton verpackt hat. Auch seine Gattin suchen die Hauptkommissare Lessing (Christian Ulmen) und Kira Dorn (Nora Tschirner) zunächst vergeblich, denn die frühere Weimarer Kloßkönigin ist mittlerweile nur noch eine Klokönigin: Roswita Hassenzahl (Milena Dreißig, Tanzmariechen), nach der ihr Mann einst die titelgebende Kartoffel Die robuste Roswita benannt hat, verlor vor Jahren bei einem Sturz ihr Gedächtnis und kam danach beim schwer in sie verliebten Pilzsammler und Trickbetrüger Roland Schnecke (Nicki von Tempelhoff, Sonnenwende) unter, der ihr einen Job als Klofrau an einer Raststätte besorgt hat. Als sie plötzlich wieder auftaucht, sorgt das natürlich für Turbulenzen - und während die Ludwigshafener Kommissare Odenthal und Kopper in Tödliche Häppchen in einem Betrieb für Fleisch- und Fertiggerichte, ihr Kieler Kollege in Borowski und eine Frage von reinem Geschmack in einer Energydrink-Firma und die niedersächsische LKA-Kommissarin Lindholm in Der sanfte Tod in den Produktionshallen eines Fleischfabrikanten ermittelten, dürfen sich Lessing und Dorn nun nach Herzenslust in Hassenzahls Kloßmanufaktur austoben. Und werden ganz nebenbei noch von ihrem neuen Lebensgefährten fachkundig darüber aufgeklärt, wie man möglichst spritzfrei ins Pissoir einer Herrentoilette pinkelt.
Schnecke: "Drei Dinge muss ein Mann beachten: Senkrechte statt waagerechte Oberflächen anstrullen, geringer Aufprallwinkel und nah rantreten."
Wenn Dorn ihren nicht gerade vollschlanken Partner beim spontanen Nachstellen der Leichenbeseitigung keuchend durch die Halle schleppt und sich anschließend kaum noch auf den Beinen halten kann, ist das eine der gelungensten Sequenzen in dieser kurzweiligen Krimikomödie: Die Drehbuchautoren Murmel Clausen und Andreas Pflüger, die auch die vorherigen Fälle aus Weimar konzipierten, setzen wieder auf das in Die fette Hoppe etablierte Erfolgsrezept, mit dem sich der Tatort aus Thüringen seit 2013 eine große Fangemeinde erarbeitet hat. Mit der Realität im deutschen Polizeialltag haben solche Einfälle wenig zu tun, aber das hat die Macher der Tatort-Folgen von der Ilm noch nie interessiert: In Weimar steht der Spaß im Vordergrund, und der kommt im 1064. Tatort einmal mehr nicht zu kurz. Im Gegenteil: Die robuste Roswita ist eine sympathische Gag-Parade mit staubtrockenem Wortwitz ("Seit der Schule waren wir per du." - "Aber jetzt ist alles perdu."), gewohnt schrägen Figuren und einem turbulenten Finale, was ein Stück weit für die gänzlich fehlende Spannung entschädigt. Während beim Showdown der verbitterte Kartoffelbauer Thomas Halupczok (Jörn Hentschel, Borowski und das Land zwischen den Meeren) und die Supermarkt-Einkaufsleiterin Marion Kretschmar (Anne Schäfer, Wir sind die Guten) zu großer Form auflaufen, ist es ansonsten vor allem die undurchsichtige Roswita Hasselbach, die eine Szene nach der nächsten stiehlt: Die pfiffige Amnesie-Patientin emanzipiert sich schneller von ihrer anfänglichen Dummchen-Rolle, als es vielen ihrer Mitmenschen lieb ist. Für reichlich Pointen sorgen ansonsten der erkältete Kommissariatsleiter Kurt Stich (Thorsten Merten) und Schutzpolizist Lupo (Arndt Schwering-Sohnrey), der schon mal vor einer Wildschweinhorde auf den Baum flüchtet - die beiden Sidekicks sind aber längst zu reinen Karikaturen verkommen und sorgen mit ihren platten Zoten wie schon im Vorgänger Der kalte Fritte nicht immer für die erhofften Lacher. Eine auffällige Parallele ergibt sich außerdem zum grandiosen Schweizer Tatort-Experiment Die Musik stirbt zuletzt, das drei Wochen zuvor die Sommerpause 2018 beendete: Auch in Die robuste Roswita kommt das als "Schwiegermuttergift" bekannte Pflanzenschutzmittel E 605 zum Einsatz - eine Schwiegermutter muss aber auch in Weimar nicht dran glauben.

Bewertung: 6/10

Borowski und das Haus der Geister

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Folge: 1065 | 2. September 2018 | Sender: NDR | Regie: Elmar Fischer
Bild: NDR/Christine Schroeder
So war der Tatort:

Übersinnlich, übertrieben und überraschend schwach - zumindest für Kieler Verhältnisse. Denn Regisseur Elmar Fischer (Letzte Tage) und Drehbuchautor Marco Wiersch (Zeit der Frösche) schicken den Tatort knapp elf Monate nach dem allenfalls zum Fürchten schlechten Frankfurter Krimi-Experiment Fürchte dich erneut auf einen Ausflug ins Horror-Genre: Hauptkommissar Klaus Borowski (Axel Milberg) reist vier Jahre nach dem Verschwinden seines heimlichen Schwarms Heike Voigt (Sandrine Mittelstädt, Todesbrücke), der Ehefrau seines früheren Freundes Frank Voigt (Thomas Loibl, Wofür es sich zu leben lohnt), in dessen Villa – Borowskis Patenkind Grete (Emma Mathilde Floßmann), das gemeinsam mit ihrem Vater Frank, dessen neuer Frau Anna (Karoline Schuch, Kalter Engel) und ihrer Schwester Sinja (Mercedes Müller, Mia san jetz da wo's weh tut) in dem abgelegenen Haus wohnt, hatte ihn per Brief darum gebeten. Nachts geschehen dort unheimliche Dinge, die aber nur Anna wahrnimmt. Fauler Zauber oder tatsächlich übersinnliche Phänomene? Borowski geht auf Geisterjagd und rollt den zurückliegenden Todesfall neu auf, doch weil er befangen ist, stellt ihm sein Chef Roland Schladitz (Thomas Kügel) eine Partnerin zur Seite: Die 28-jährige Mila Sahin (Almila Bagriacik, Wer das Schweigen bricht) ist die Neue im Kieler Polizeipräsidium und tritt die indirekte Nachfolge von Sarah Brandt (Sibel Kekilli) an, nachdem der Kommissar in Borowski und das Land zwischen den Meeren einmalig allein ermittelt hatte. Und Sahin ist wahrlich nicht auf den Mund gefallen.
Voigt: "Mir gefällt ihr Ton nicht."
Sahin: "Ich könnte Gesangsstunden nehmen."
Der NDR setzt auf ein vor Selbstbewusstsein nur so strotzendes Energiebündel: Sahin unterzieht ihre Boxbirne "Walter" im neuen Büro schon zum Einstieg einer Belastungsprobe und drückt in der Folge ordentlich aufs Tempo. Ihre dynamische Gangart und das unerschütterliche Selbstvertrauen, mit dem sie vor allem der Generation Y als Identifikationsfigur dienen dürfte, wirken allerdings überzeichnet und werden erst im Schlussdrittel des Krimis auf ein weniger anstrengendes Maß zurückgeschraubt. Ansonsten ist Sahin Brandt durchaus ähnlich, so dass sich an der Ermittlerkonstellation auf den ersten Blick nicht viel ändert. Auch der Mut zu ausgefallenen Geschichten ist für den Fadenkreuzkrimi von der Förde typisch, doch birgt Borowski und das Haus der Geister– und das ist im Kieler Tatort eher die Ausnahme – im Hinblick aufs Drehbuch einige Schwächen: Die Auflösung fällt ziemlich vorhersehbar aus und beim Blick auf die Figuren scheint manches nicht stimmig. Dass Borowski vom Jähzorn seines einstigen Schwarms nicht das Geringste geahnt haben will, wirkt sehr unglaubwürdig, sein blindes Vertrauen zu Neuling Sahin gerade bei einem solch persönlichen Fall überhastet – und über sein verschlossenes Patenkind, das die Filmemacher als anfängliche Schlüsselfigur schnell wieder fallen lassen, erfahren wir viel zu wenig. Vielmehr müssen Gretes blaue Haare, ihre Wollmütze und ihre Punk-Klamotten reichen, um sie auch im Geiste von ihrer sexy gekleideten Schwester Sinja zu trennen. Zumindest im Hinblick auf Stiefmutter Anna, die von den schrecklichen Horror-Visionen gepeinigt wird, legen die Filmemacher mit einem gemeinsamen Ausflug in den Wald ein deutlich solideres Fundament für die weitere Charakterzeichnung und auch ästhetisch weiß der 1065. Tatort zu überzeugen. Dem solide inszenierten nächtlichen Grusel fehlt aber die Durchschlagskraft, denn für elektrisierende Schockmomente ist der Sendeplatz der falsche und für eine Geistergeschichte, bei der man die vermeintliche Übersinnlichkeit als gegeben hinnehmen könnte, ist die Handlung tagsüber viel zu sehr in der Realität geerdet. Als Borowski die Damen des Hauses irgendwann sogar zum Gläserrücken bittet ("Wir rufen dich, großer Geist!"), driftet die Handlung für einen Moment ins Lächerliche ab, ehe sich die Filmemacher wieder auf das konzentrieren, was ihren unrunden Genre-Mix überhaupt sehenswert macht: das Offenlegen der innerfamiliären Spannungen und die Aufklärung des tragischen Vorfalls von einst. Auch im Hinblick auf die Figurenentwicklung istBorowski und das Haus der Geister interessant: Nach fast fünfzehn Dienstjahren dürfen wir endlich seine Ex-Frau Gabrielle (Heike Trinker, Der rote Schatten) kennenlernen – ein netter Handlungsschlenker, der die Geschichte aber kaum voranbringt.

Bewertung: 5/10

Tiere der Großstadt

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Folge: 1066 | 16. September 2018 | Sender: rbb | Regie: Roland Suso Richter
Bild: rbb/Conny Klein
So war der Tatort:

Transhumanistisch. Denn im winterlichen Berlin übernehmen die Maschinen – und zwischen den Ermittlern wird es frostig. Programmierte Roboter kochen Kaffee, schmeißen den Haushalt, trösten bei Einsamkeit – und sie töten. Dieses altbekannte Horrorthema beschäftigt die Hauptkommissare Nina Rubin (Meret Becker) und Robert Karow (Mark Waschke) bei der Aufklärung eines Todesfalls am Ku'damm: Tom Menke (Martin Baden) wird erstochen in seinem "Robista"-Coffeshop aufgefunden. Dass das komplett selbstständig arbeitende und kaffeevertreibende Gerät den Unfall selbst verursacht haben könnte: natürlich ausgeschlossen! Parallel dazu kehrt Carolina (Tatiana Nekrasov, Dunkle Zeit), die Frau des Bäckers Reno Gröning (Kai Scheve, Tödliche Häppchen) nicht vom morgendlichen Waldlauf zurück: Sie scheint kurz vor ihrem Tod Bekanntschaft mit einem Wildschwein gemacht zu haben. Der Berliner Grunewald beherbergt neben Joggern schließlich längst wieder allerlei Getier – und in Tiere der Großstadt auch die für die Handlung seltsam überflüssige Naturbloggerin Charlie (Stefanie Stappenbeck, bis 2016 dreimal im Tatort aus Hamburg zu sehen), die mit der Leiche im Schnee schließlich ein "besonderes Geschenk der Natur" beim Live-Streamen aufstöbert. Was hingegen die Kameras am Ku'damm nicht sehen, sieht möglicherweise der Rentner Albert (Horst Westphal) von seinem Fenster aus. Ein freundschaftliches Band entspinnt sich zwischen ihm und Karow. Aber kann er der Erinnerung des alten Mannes trauen? Crazy Cat Lady Kathrin Menke (Valery Tscheplanowa), die den Coffeshop gemeinsam mit ihrem ermordeten Mann betrieben hatte, zieht sich jedenfalls zurück in ihren Alltag, in dem Menschen nur noch die zweite Geige spielen.
Karow: "Sie haben sich um den Automaten gekümmert wie Eltern, oder? Dieser Roboter, das war sowas wie’n Baby für Sie."
Menke: "Auf jeden Fall muss man ihm alles nur einmal zeigen. Ich hab’ gehört, bei Kindern ist das nicht so."
Für Berliner Verhältnisse leider schwach ist das Drehbuch von Beate Langmaack (Das Recht, sich zu sorgen): Das Zusammenführen der beiden Handlungsstränge gelingt ihr kaum, die Vorhersehbarkeit bei der Täterfrage und ein spät eingestreuter Hinweis sind Spannungskiller. Als Zuschauer könnte man sich aufgrund des ausgelutschten Digi-Themas (vgl. HAL, Mord Ex Machina oder Echolot) ohnehin sehr früh mit der Auflösung "Es war der Roboter!" zufrieden geben, aber auch Wildschweine und Füchse gehören mittlerweile ebenso zu Berlin wie der Fernsehturm und Automatenkaffee. Possierliche Tierchen wuseln, flattern und streunen als Leitmotiv durch den 1066. Tatort, während ein Totentanz mit der Maschine schließlich die Message offenbart: Die Menschen hängen zu viel mit Siri und Co. ab und kriegen ihre sozialen Beziehungen nicht mehr auf die Reihe. Keine besonders überraschende Erkenntnis. Küchenphilosophie hat schon so manchen Sonntagskrimi versaut und lässt die Hoffnung auf den nächsten Berlin-Knaller nach dem grandiosen Berlinale-Tatort Meta platzen, doch anders als in München oder Köln kommt man an der Spree ohne Moralapostel aus: Im Angesicht der Endzeitstimmung bringen die beiden Ermittler jede Line mit soviel ironischer Überhöhung rüber, dass der Film trotzdem Spaß macht. Und wie üblich in der Hauptstadt war auch bei Tiere der Großstadt wieder Qualität am Werk: Regisseur Roland Suso Richter (Kopper) schafft eine skurrile Naturlyrik des Berliner Dschungels und inszeniert mit vielen metaphorischen Details die Mensch-Maschine-Interaktion. Schon der Vorspann zeigt sich als aufwändig produzierter Videoclip im Stile erfolgreicher Web- und Pay-TV-Serien. Die Musik von Nils Frahm (Deutscher Filmpreis für die Musik in Victoria) macht aus dem Tatort mit leicht dissonantem Clubsound auch künstlerisch eine runde Sache und in Sachen Schauspielkunst sind Meret Becker und Mark Waschke sowieso eine sichere Bank. Wenngleich Karows Wutausbrüche und Rubins ewiger Mutter-Sohn-Konflikt diesmal sehr konstruiert wirken, wissen die beiden Großstadtpflanzen mit all dem menschlichen Gefühlsballast erstaunlich souverän umzugehen. Nüchtern überbringen sie Todesnachrichten und blicken stets etwas blasiert auf den Großstadtzoo, der sich heimlich den Lebensraum von den menschlichen Bewohnern zurückerobert. Im Vergleich dazu beißt sich der (durchaus spannende) Nachwuchs Mark Steinke (letzter Auftritt: Tim Kalkhof) und Anna Feil (Carolyn Genzkow) noch öfter auf die Lippe, als es sein müsste. Rubin und Karow hingegen merkt man an, wie sehr sie in diesem Film und in dieser Stadt zu Hause sind: Sie lieben und weinen, sie schreien und schwitzen, sie frotzeln und küssen. Sie sind Berlin.

Bewertung: 6/10

Tod und Spiele

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Folge: 1067 | 7. Oktober 2018 | Sender: WDR | Regie: Maris Pfeiffer
Bild: WDR/Thomas Kost
So war der Tatort:

Kampfsportlich. Denn das neu formierte Dortmunder Quartett um Hauptkommissar Peter Faber (Jörg Hartmann), Martina Bönisch (Anna Schudt), Nora Dalay (Aylin Tezel) und Jan Pawlak (Rick Okon) verschlägt es bei seinem ersten gemeinsamen Einsatz in die illegale Mixed-Martial-Arts-Szene - und dort beweist vor allem Debütant Pawlak, dass sein gefährlicher Undercover-Einsatz in der JVA im Vorgänger Tollwut nicht von ungefähr kam. Der Dortmunder Neuzugang, der in Tod und Spiele offiziell die Nachfolge des im Meilenstein Sturmausgeschiedenen Daniel Kossik (Stefan Konarske) antritt, geht wieder dahin, wo's weh tut: Er ermittelt verdeckt im Fight Club von Till Koch (Robert Gallinowski, Level X), weil in einer leerstehenden Fabrik am Stadtrand die verbrannten und noch zu Lebzeiten schlecht verheilten Knochen eines Mannes gefunden wurden, der dort mutmaßlich trainiert hat – und außerdem bei illegalen Wettkämpfen angetreten ist, bei denen es um Leben, Tod und viel Geld ging. Dabei ist Pawlak gar nicht der Draufgänger, für den man ihn zunächst halten sollte: Anders als Faber, Bönisch und Dalay ist er bei den Ermittlungen um Harmonie bemüht und macht pünktlich Feierabend. Das birgt ebenso Zündstoff wie sein Dienstgrad Hauptkommissar, der der jungen Oberkommissarin Dalay überhaupt nicht in den Kram passt. Und anders als seine Kollegen hat der Mann sogar (noch) Familie.
Pawlak: "Ich hab selbst 'ne Familie. Bin ich offenbar der Einzige hier?"
Faber: "Das gibt sich auch noch, wenn Sie nur lange genug bei uns bleiben."
Schon beim Aufarbeiten der hierarchischen Diskrepanz zwischen Pawlak und Dalay offenbart sich eine der größten Schwächen dieses Krimis, die in den sonst so überzeugenden Tatort-Folgen aus Dortmund bisher nur selten zu beobachten war: Die zwischenmenschlichen Konflikte und launigen Sprüche lassen die Natürlichkeit bisweilen vermissen und entwickeln sich oft nicht aus den Charakteren heraus, sondern wirken wie vorgegeben. Dass Drehbuchautor Jürgen Werner (Zahltag), der den Großteil der bisherigen Fälle konzipiert hat, das Ruder diesmal seinem Kollegen Wolfgang Stauch (Côte d'Azur) überlässt, ist spürbar. Die Spannung köchelt auf Sparflamme, wenngleich neben Pawlaks Beschattung von MMA-Trainer Abuzar Zaurayev-Schmidt (Surho Sugaipov, Dunkle Zeit) noch ein zweiter Undercover-Einsatz für eben jene sorgen soll: Bönisch quartiert sich unter falschem Namen in einem Hotel ein und bandelt dort mit dem Oligarchen Oleg Kombarow (Samuel Finzi, bekannt als Gerichtsmediziner Dr. Stormann aus dem Kieler Tatort) an, der bei den Kämpfen viel Geld aufs Spiel setzt und am liebsten Borussia Dortmund kaufen würde. Wirklich mitzureißen vermag aber auch dieser Handlungsstrang selten, wenngleich sich Kombarow vom Klischee des schmierigen Russen mit viel Geld und wenig Skrupeln emanzipieren darf. Fast gänzlich verschenkt wird dafür eine Figur, die eigentlich großes Potenzial mitbringt: Der verängstigte kleine Junge (Cecil Schuster), den Faber im Hotelzimmer des Toten findet und scherzhaft "Kleinkhan" tauft, darf die Ermittler zu Beginn zwar mit seinem hartnäckigen Schweigen aus der Reserve locken, wird später aber einfach vorm PC geparkt und damit als Figur fallengelassen, um dann beim Showdown plötzlich wieder einzugreifen. Während die Realitätsnähe – die Kripo lässt den Jungen tagelang ohne Wissen des Jugendamts im Büro auf dem Fußboden schlafen – im 1067. Tatort erschreckend klein geschrieben wird, klaffen anderswo riesige Logiklöcher: Hätten die Ermittler einfach mal Kleinkhans Kleidung untersucht, wäre der Fall schon viel früher gelöst gewesen. So sind der größte Pluspunkt in Tod und Spiele am Ende die tollen Szenen mit Faber und Bönisch: Wenn sich die beiden heimlich auf der Damentoilette treffen, über die nötigen Grenzen ihrer Umtriebigkeit streiten oder sich Faber zähneknirschend eingesteht, dass er seine Kollegin nicht nur als Fachkraft schätzt, ist der Dortmunder Tatort voll in seinem Element. Bissige Wortgefechte allein machen aber noch keinen guten Krimi, denn auch die Inszenierung von Maris Pfeiffer (Verdammt) enttäuscht: Besonders künstlich wirkt neben einem fast unfreiwillig komischen K.O. im Präsidium auch der Showdown, bei dem der Funke von den Kämpfern nicht recht auf die Besucher überspringen will.

Bewertung: 5/10

Her mit der Marie!

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Folge: 1068 | 14. Oktober 2018 | Sender: ORF | Regie: Barbara Eder
Bild: ARD Degeto/ORF/Hubert Mican
So war der Tatort:

An der Grenze des Zumutbaren. Doch nicht etwa im Hinblick auf das Drehbuch (das ist klasse), die Inszenierung (die ebenfalls) oder gar die Besetzung (die über jeden Zweifel erhaben ist): Nein, in diesem Austro-Tatort wird ein derartiges Dialektfeuerwerk abgebrannt, das bei vielen deutschen Zuschauern gleich reihenweise Fragezeichen über die Stirn huschen dürften. Wer mit dem Wiener Zungenschlag und den entsprechenden Begrifflichkeiten in unserem Nachbarland fremdelt, wird an diesem Tatort wenig Freunde finden, denn der irritiert schon mit seinem Filmtitel: Her mit der Marie! bezieht sich nicht etwa auf eine Geisel oder ein Entführungsopfer selbigen Namens, sondern heißt im Österreichischen so viel wie "Geld her!". Gemeint ist eine Tasche mit Banknoten: Pico Bello (Christopher Schärf, Glaube, Liebe, Tod) und Edin Gavric (Aleksandar Petrovic), zwei Handlanger des früheren Unterweltkönigs Joseph "Dokta" Fenz (Falsch verpackt), brausen einleitend mit ordentlich Kohle im Kofferraum durch die Provinz, werden aber von einem maskierten Unbekannten überfallen und um ihr Geld gebracht. Gavric bezahlt sogar mit dem Leben, weil er den Helden spielen will – das wiederum ruft Chefinspektor Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Major Bibi Fellner (Adele Neuhauser) auf den Plan, die den Wiener Schmäh in diesem Tatort einmal mehr zelebrieren. Zur Not auch mal per "Wecall"-Schalte, bei der Eisner mit einem sympathischen Profilbild– in Zeiten von Snapchat und Instagram natürlich mit rausgestreckter Zunge, animierter Nase und braunen Ohren im ergrauten Haar – für den größten Lacher in diesem ohnehin äußerst kurzweiligen Tatort sorgt.
Fellner: "Is' fesch, dein Profilbild!"
Eisner: "Weißt du, wie man den Scheiß wieder wegkriegt!?"
An den Dialekt der beiden Ermittler, der die Zankereien ja gleich doppelt amüsant macht, haben wir uns nach siebeneinhalb Dienstjahren zwar gewöhnt – wenn Fellner und ihr alter Busenkumpel Inkasso-Heinzi (Simon Schwarz) bei einer Plauderei im Hinterhof aber nebenbei auch noch auf einem Leberkäsbrötchen herumkauen (s. Bild), ist selbst für das geschulte Ohr kaum noch etwas zu verstehen. Wer die akustische Herausforderung annimmt, wird aber mit einem auch ästhetisch überzeugenden Genre-Mix belohnt: Schon der melancholische Soundtrack (incl. Gastauftritt von Voodoo Jürgens), ein paar tolle Splitscreen-Montagen und die wunderbar fotografierte Eröffnungssequenz auf einer einsamen Landstraße zeigen, dass wir es mit keinem Tatort nach Schema F zu tun haben. Regisseurin Barbara Eder (Virus) inszeniert vielmehr eine sehr unterhaltsame Kombination aus Milieukrimi, Roadmovie, Westerndrama und Mafiathriller, die sich selbst nicht allzu ernst nimmt und in der sich die schillernden Figuren förmlich die Klinke in die Hand geben. Während der augenzwinkernd überzeichnete Elvis-Verschnitt Pico und sein Verhältnis zur neuerdings angeblich ehrlichen Haut Inkasso-Heinzi bis zum Schluss die große Unbekannte und Antriebsfeder der Geschichte bleiben, gibt der eiskalte Problembeseitiger Marko Jukic (Johannes Krisch, Vergeltung) den harten Hund. Der einflussreiche Dokta stiehlt ebenfalls viele Szenen – zum Beispiel dann, wenn er sich beim Verhör im Präsidium in aller Seelenruhe ein Ei pellt, das ihm seine knuffige Gattin (Maria Hofstätter, Granit) zuvor noch fix in die Lunchbox gepackt hat. Auch der übereifrige Assistent Manfred Schimpf (Thomas Stipsits) stellt bei seinem neunten Auftritt unter Beweis, was für ein großer Gewinn er über die Jahre für den Tatort aus Österreich geworden ist: So sehr sich Eisner und Fellner bei den Ermittlungen auch in die Haare kriegen – in dem tatendurstigen Kollegen finden sie in Her mit der Marie! immer wieder ein gemeinsames Feindbild, über das sie sich wunderbar echauffieren können. Den 1068. Tatort auf sein Figurenensemble und die stellenweise brüllend komische Situationskomik zu reduzieren, würde dem überzeugenden Drehbuch von Stefan Hafner und Thomas Weingartner aber nicht gerecht: Wer einfach nur einen guten Krimi sehen und miträtseln möchte, kommt ebenfalls auf seine Kosten. Zwar reduziert sich der Kreis der Verdächtigen auf eine Person, doch bleibt deren Rolle bei der Tat bis in die emotionalen Schlussminuten unklar. Dass die Auflösung nicht sonderlich knifflig ausfällt und sich im Mittelteil des Films ein paar Längen einschleichen, schmälert den guten Gesamteindruck allerdings ein wenig.

Bewertung: 7/10

KI

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Folge: 1069 | 21. Oktober 2018 | Sender: BR | Regie: Sebastian Marka
Bild: BR/Bavaria Fiction GmbH/Hendrik Heiden
So war der Tatort:

Seelenlos. Denn in diesem Tatort von Sebastian Marka (Der scheidende Schupo) mangelt es zwar weniger der ambitionierten Geschichte, dafür aber der wichtigsten Augenzeugin im Fall der verschwundenen Melanie Degner (Katharina Stark) an einer Seele und Herzblut: Die 14-jährige Schülerin hatte eine komplexe künstliche Intelligenz namens MARIA auf ihrem Laptop installiert. Die wurde offenbar aus dem Leibniz-Rechenzentrum in München-Garching gestohlen und weiß mehr über die Hintergründe von Melanies Verschwinden. Bei der Aufklärung des Falls sind die Münchner Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) – nicht gerade die Digital Natives der Krimireihe – wohl oder übel auf die Unterstützung der titelgebenden KI angewiesen: Die Idee der Drehbuchautoren Stefan Holtz und Florian Iwersen, die bereits die sehenswerte Oktoberfest-Folge Die letzte Wiesn gemeinsam schrieben, eine künstliche Intelligenz zur wertvollsten Zeugin zu machen, hat es im Tatort so noch nicht gegeben und schafft eine vielversprechende Ausgangslage für einen spannenden Cyberkrimi. Wenngleich der warnende Zeigefinger nicht ausbleibt, rückt die KI zu Beginn sogar in ein ungewohnt positives Licht – und wenn Leitmayr im LRZ bei der ersten Befragung von MARIA schon nach wenigen Fragen die Geduld verliert, weil sich Batic mit neunmalklugen Ratschlägen einmischt, darf natürlich auch geschmunzelt werden.
Leitmayr: "Jetzt halt doch mal die Klappe, Mensch!"
MARIA: "Redest du mit mir?"
Leitmayr: "Nein."
MARIA: "Aber ich höre noch eine Stimme."
Leitmayr: "Ja, leider. Einfach ignorieren, das mach ich auch so."
Sympathisch-humorvolle und zugleich sorgfältig dosierte Szenen wie diese sind typisch für den Tatort aus München, gehen diesmal aber auf Kosten der Logik: MARIA scheint beim Verhör stets die Antworten zu geben (oder eben nicht zu geben), die dramaturgisch ins Konzept passen. Auch technisch klafft das eine oder andere Logikloch: Betont Projektleiter Bernd Fehling (Florian Panzner, Nachbarn) einleitend noch, dass allein der Supercomputer im Rechenzentrum dazu in der Lage sei, die riesigen Datenmengen bei der Interaktion mit der KI störungsfrei zu verarbeiten, lässt sich mit ihrer weiterentwickelten Raubkopie problemlos per Laptop bei wackeliger Internetverbindung in der Pampa interagieren. Solche Ungereimtheiten schmälern den Unterhaltungswert zwar nur gering, dafür offenbaren sich im Hinblick auf die Nebenfiguren erhebliche Schwächen bei der Charakterzeichnung: Den nicht von ungefähr mit Sonnenbrille, Cap und Vollbart maskierten IT-Techniker Christian Wilmots (Schauspieler Thorsten Merten spielt schließlich auch Kommissariatsleiter Kurt Stich im Tatort aus Weimar) skizzieren die Filmemacher viel zu oberflächlich als paranoiden Einzelgänger und Freak ("Wer schickt euch? NSA? BND?"), während die ehrgeizige Überfliegerin Anna Velot (Janina Fautz, Sonnenwende) kaum mehr als ein anstrengendes Klischee auf zwei Beinen ist. Die Kollegen der Kommissare bestätigen hingegen ein ungeschriebenes Tatort-Gesetz: Die auszubügelnden Ermittlungsfehler gehen oft aufs Konto der unteren Dienstränge – diesmal auf das von Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer), der sich von Anna mit einem simplen Trick aufs Kreuz legen lässt, und Ritschy Semmler (Stefan Betz), der bei einer Observation im entscheidenden Moment nicht richtig hinsieht. Trotz der vielen Szenen im futuristisch eingerichteten LRZ ist KI aber kein reiner Cyberkrimi, sondern auch ein – leider sehr vorhersehbares – Familiendrama: Wieviel durch die Scheidung von Melanies Eltern ins Rollen gekommen ist, lassen schon die Antidepressiva erahnen, die ihre Mutter in ihrer ersten Szene in einer Schublade verschwinden lässt. Während wir am Seelenleben ihres Ex-Mannes Robert (Dirk Borchardt, Hundstage) ausführlich teilhaben dürfen, bleibt Brigitte Degner (Lisa Martinek, Blutgeld) die Unbekannte in diesem Tatort – erfahrene Zuschauer ziehen daraus schon früh die entsprechenden Schlüsse. Auch über die Gründe für Melanies Einsamkeit und ihre Flucht in die Pseudo-Freundschaft zu einer künstlichen Intelligenz erfahren wir zu wenig, als das uns ihr Schicksal berühren würde – und so wirft das tragische Ende fast mehr Fragen auf, als es beantwortet.

Bewertung: 5/10

Blut

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Folge: 1070 | 28. Oktober 2018 | Sender: Radio Bremen | Regie: Philip Koch
Bild: Screenshot/Radio Bremen
So war der Tatort:

Nichts für schwache Nerven. Denn wie schon 2017 setzt die ARD im ausklingenden Oktober auch 2018 wieder auf einen Halloween-Tatort: Waren es im Vorjahr die Frankfurter Hauptkommissare Anna Janneke (Margarita Broich) und Paul Brix (Wolfram Koch), die im allenfalls zum Fürchten schlechten Tatort Fürchte dich in einem Spukhaus mit paranormalen Phänomenen konfrontiert wurden und die Zuschauer reihenweise zum Abschalten animierten, so sind es diesmal ihre Bremer Kollegen Inga Lürsen (Sabine Postel) und Nils Stedefreund (Oliver Mommsen), die in der Hansestadt einen wahren Horrortrip erleben. Doch diesmal entpuppt sich das Genre-Experiment als Volltreffer: "Lasst uns noch mal ein Feuerwerk abfackeln", brachte Mommsen das gemeinsame Motto von Sender und Schauspielern im Hinblick auf den 2019 anstehenden Abschied der Bremer Kommissare in einem Interview auf den Punkt – und Regisseur Philip Koch, der das Drehbuch zu Blut gemeinsam mit Holger Joos (Freies Land) schrieb und bereits den bärenstarken Vorgänger Im toten Winkel inszenierte, lässt Taten folgen. Nachdem eine unbekannte Frau der jungen Julia Franzen (Lena Kalisch, Das Gespenst) einleitend in einem Park das Blut aussaugt und deren Freundin Anna Welter (Lilly Menke, Tiere der Großstadt) gerade noch mit dem Schrecken davon kommt, machen sich Lürsen und Stedefreund auf die Suche nach einem Vampir – obwohl sie natürlich wissen, dass es ihn eigentlich gar nicht gibt.
Lürsen: "Ich glaube nicht an Monster, die sich in Fledermäuse verwandeln."
Oder etwa doch? Während Lürsen, die bei ihren Recherchen von ihrer Tochter Helen Reinders (Camilla Renschke) unterstützt wird, die Theorie des fachkundigen Germanistikprofessors Syberberg (Stephan Bissmeier, Die letzte Wiesn) ins Reich der Märchen verweist, ist Stedefreund nach einer einschneidenden Erfahrung empfänglicher für eine übernatürliche Erklärung des brutalen Mordes – und der Zuschauer darf selbst entscheiden, welchen Ansatz er favorisiert. Das ist sehr typisch für die Krimireihe und lässt den 1070. Tatort – bei all seiner Extravaganz – unterm Strich ein wenig durchgeplanter wirken, als man es bei einem solch wagemutigen Experiment für möglich halten sollte. Dem hohen Unterhaltungswert tut das aber kaum Abbruch, wenn man denn das entsprechende Nervenkostüm mitbringt: Koch hält das Spannungslevel von Minute 1 an hoch und gönnt seinem Publikum dank sorgfältig dosierter Jump Scares, blutiger Schockmomente und klassischer Suspense nur selten längere Verschnaufpausen. Und er geizt nicht mit filmischen Zitaten, denn schon die Auftaktsequenz dürfte so manchem Fan von Freddy Krueger, Michael Myers& Co. einen nostalgischen Schauer über den Rücken laufen lassen: Der Popcorn-in-der-Küche-Verweis auf Wes Cravens Meisterwerk Scream stellt die Weichen auf Fürchten und bleibt bei weitem nicht der letzte in diesem Film. Neben einer verbalen Anspielung auf Van Helsing und verschiedenen Anleihen aus bekannten Slasher- und Exorzismusfilmen findet auch das Szenenbild aus dem Hitchcock-Klassiker Psycho seine Entsprechung – nämlich in der steilen Treppe im Wohnhaus von Nora Harding (Lilith Stangenberg) und ihrem Wolf (Cornelius Obonya, Granit), in dem das Herz dieses Horrorkrimis schlägt und in dem das Blut schon mal in der Mikrowelle warm gemacht wird. Die beeindruckende Performance von Nebendarstellerin Lilith Stangenberg, die als menschlicher Vampir einen wahren Kraftakt abliefert und sich nach Herzenslust austoben darf, ist allein schon das Einschalten wert. Damit der Halloween-Tatort beim spannenden Spagat zwischen klassischer Krimikost und dem blutigen Ausflug ins Horrorgenre nie ganz die Bodenhaftung verliert, bedienen sich die Filmemacher eines kleinen Tricks: Die wirklich paranormalen Momente erlebt Stedefreund immer in nächtlichen Alpträumen oder im Fieberwahn – alle anderen Vorfälle könnten mit natürlichen Ursachen erklärbar sein. So wandelt der vorletzte Tatort mit Lürsen und Stedefreund zwar auf einem ganz schmalen Grat zwischen klassischer Krimi-Unterhaltung, blutigen Zugeständnissen an das Horror-Publikum und der Gefahr von unfreiwilliger Komik – aber anders als Fürchte dich oder manch anderes missglückte Tatort-Experiment verliert er dabei nie die Balance.

Bewertung: 8/10


Der Mann, der lügt

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Folge: 1071 | 4. November 2018 | Sender: SWR | Regie: Martin Eigler
Bild: SWR/Alexander Kluge
So war der Tatort:

Perspektivisch außergewöhnlich. Denn Der Mann, der lügt, ist im gleichnamigen Stuttgarter Tatort auch der Mann, dem wir eineinhalb Stunden lang über die Schulter blicken: Regisseur und Drehbuchautor Martin Eigler, der die Geschichte zum Film wie schon beim Dortmunder Meilenstein Sturm mit Sönke Lars Neuwöhner schrieb, wechselt die Erzählperspektive und schildert das Geschehen nicht aus der Sicht der Hauptkommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare), sondern aus der Sicht des Hauptverdächtigen. Nach dem brutalen Mord an dem windigen Anlageberater Uwe Berger fällt der Verdacht auf Jakob Gregorowicz (Manuel Rubey, Kinderwunsch), der am Vorabend einen Termin mit Berger hatte – und beginnend mit der Eröffnungssequenz weichen wir Gregorowicz in diesem spannenden Krimidrama nicht mehr von der Seite. Vielmehr folgen wir ihm nach Hause zu Ehefrau Katharina (Britta Hammelstein, Fegefeuer) und Tochter Jule (Livia Sophie Magin), zu seinem Zahnarzt Dr. Radu Voica (Daniel Wagner, Level X) und sogar auf den Tennisplatz – und werden im Gegensatz zu den Ermittlern auch früh zum Zeugen seines Doppellebens, von dem seine Familie ebenso wenig ahnt wie sein Anwalt und Schwager Moritz Ullmann (Hans Löw, Es lebe der Tod). Der Mann, der lügt, hat sich über die Jahre ein gewaltiges Konstrukt aus Lügen aufgebaut – und es ist an Lannert und Bootz, es Schritt für Schritt zum Einsturz zu bringen und sich bei den entnervenden Befragungen nicht entmutigen zu lassen (mehr über die fordernden Dreharbeiten verriet uns Felix Klare im Interview).
Gregorowicz: "Das habe ich ja schon gesagt."
Bootz: "Ja, das haben Sie dann irgendwann, nach Stunden, beliebt zu sagen. Jetzt sind wir aber bei einem anderen Punkt! Und wenn Sie den letztendlich auch erst in drei oder vier Stunden zugeben, verlieren wir wieder und wieder wertvolle Zeit. Wie seit Tagen schon – einzig und allein, weil Sie lügen!
Die kammerspielartige Sequenz im Stuttgarter Verhörraum erinnert an den gelungenen Berliner Tatort Machtlos, in dem sich die engagierten Kommissare eine halbe Ewigkeit die Zähne an ihrem Gegenüber ausbissen – aber ist Gregorowicz wirklich der Mörder? Anders als in einem klassischen Whodunit stellt sich im 1071. Tatort weniger die Frage, wer die Tat begangen hat, sondern ob die Tat von ihm begangen wurde. Der starke Fokus auf den charismatischen Verdächtigen ist für die Krimireihe aber gar nicht so ungewöhnlich, wie man meinen sollte: Ähnliche Ansätze gab es zum Beispiel in Haie vor Helgoland, Das Böse oder Der Teufel vom Berg. Die Konsequenz, mit der die Filmemacher den Perspektivwechsel durchziehen, sucht aber ihresgleichen: Lannert und Bootz reden bei ihrem zehnjährigen Tatort-Jubiläum keinen einzigen (!) Satz miteinander. Die Dialogzeilen der Kommissare beschränken sich auf die Befragung des mutmaßlichen Mörders – damit sind auch Staatsanwältin Emilia Alvarez (Carolina Vera) und die fast wortlose Nika Banovic (Mimi Fiedler), die zum letzten Mal im Tatort aus dem Ländle mit von der Partie ist, nur bessere Statisten. Auch das TV-Publikum nimmt eine ungewohnte Rolle ein: Es weiß zwar mehr (und zugleich oft weniger) als die Kommissare, deren Kamerazeit sich in der ersten Filmhälfte auf wenige Minuten beschränkt, aber auch nicht so viel wie der undurchsichtige Mordverdächtige selbst, der bei seiner Politik der kleinen Häppchen stets nur das gesteht, was man ihm nachweisen kann. Das erhöht den Reiz bei der Suche nach der Auflösung: Statt die Täterfrage zu früh offenzulegen, installieren die Filmemacher vielsagende Flashbacks und verschwommen illustrierte Tagträume, die wir nicht wirklich durchschauen. Dass der 22. Fall von Lannert und Bootz trotz kleinerer Spannungstiefs im Mittelteil zu den bis dato besten Tatort-Folgen aus Stuttgart zählt, liegt aber auch an den tollen schauspielerischen Leistungen von Manuel Rubey und seiner Leinwandpartnerin Britta Hammelstein: Während Rubey seine von Finanznot, Kripo und betrogener Gattin getriebene Figur facettenreich mit Leben füllt, glänzt Hammelstein beim emotionalen Streit im Hause Gregorowicz, in dem mehr im Argen liegt, als man anfangs für möglich halten sollte. Etwas kurz kommen mit Frank Schacht (Robert Schupp, Zeit der Frösche), Detlef Schönfliess (Marc Fischer) und Armin Gross (Holger Daemgen, Wahre Liebe) zwar die Freunde der Familie, doch ist auch das dem strikten Fokus auf die Schlüsselfigur geschuldet: Ob Der Mann, der lügt, auch der Mann ist, der mordet, bleibt bis zum Schluss offen. Ob es die erklärenden Texttafeln da noch gebraucht hätte, darf jeder Zuschauer für sich selbst entscheiden.

Bewertung: 8/10

Treibjagd

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Folge: 1072 | 18. November 2018 | Sender: NDR | Regie: Samira Radsi
Bild: NDR/Christine Schroeder
So war der Tatort:

Beunruhigend. Denn die Drehbuchautoren Benjamin Hessler (Spieglein, Spieglein) und Florian Öller (Zeit der Frösche) legen den Finger auf den Puls der Zeit und entspinnen in Treibjagd ein Szenario, das im Hamburg von heute schon morgen Realität sein könnte: Eine Bürgerwehr bläst in Neugraben zur Jagd auf eine osteuropäische Einbrecherbande – und gleichzeitig auch zum Angriff auf die Bundespolizisten Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) und Julia Grosz (Franziska Weisz). Die geraten schnell zwischen die Fronten: Nachdem der junge Einbrecher Kolya Daskalow (Tilman Pörzgen) auf frischer Tat ertappt und vom alleinstehenden Dieter Kranzbühler (Jörg Pose, Zurück ins Licht) in dessen Wohnzimmer erschossen wird, suchen die Kommissare fieberhaft nach dessen Freundin und Komplizin Maja Kristeva (Michelle Barthel, Hinkebein), die zugleich die wichtigste Tatzeugin ist. Auf die haben es aber auch der besorgte Bürger Siggi Reimers (Sascha Nathan, wir kennen ihn gut aus dem Frankfurter Tatort) und Kranzbühlers Bruder Bernd (Andreas Lust, Mia san jetz da wo's weh tut) abgesehen – und weil Ermittlungserfolge ausbleiben und der aufbrausende Falke mit der selbsternannten Nachbarschaftswache aneinandergerät, landet seine Adresse prompt in einem einschlägig bekannten Internetforum. Wie gefährlich es werden kann, wenn aus digitaler Hetze analoger Ernst wird, bekommt dann Falkes Sohn Torben (Levin Liam) schmerzhaft zu spüren – der offline lebende Großstadtbulle hingegen braucht in diesem Tatort (viel zu) lang, um zu begreifen, wie schnell eine Situation heutzutage durch gezielt eingesetzte Hashtags und die virale Eskalationsspirale außer Kontrolle geraten kann.
Falke: "Ich hab doch gesagt, Internet ist nur was für Spacken!"
Unterstützt vom stimmungsvollen, mitunter aber etwas aufdringlichen Soundtrack des Musikerduos Dürbeck & Dohmen inszeniert Regisseurin Samira Radsi (Schlangengrube) einen spannenden Tatort, wenngleich die Geschichte nicht ganz neu ist: Im Januar 2017 trafen bereits die Kölner Kollegen Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) in Wacht am Rhein auf eine militante Bürgerwehr, die in ihrem "Veedel" Jagd auf kriminelle Ausländer machte und das Gesetz zum Leidwesen eines ebenso unschuldigen wie vorbildlich integrierten Migranten selbst in die Hände nahm. Davon kann hier zwar keine Rede sein, denn das Opfer hat als aufmüpfiger Serieneinbrecher einiges auf dem Kerbholz – dass ihn Kranzbühler einleitend mit der Waffe richtet und seine Komplizin mit einem Streifschuss an der Hüfte verwundet, fällt dennoch in den Bereich Selbstjustiz und geht nicht mehr als Notwehr durch. Anders als im genannten Beitrag aus Köln werden die TV-Zuschauer diesmal aber Zeuge der Tat samt anschließender Tatort-Manipulation, so dass Treibjagd als Whodunit nicht funktioniert: Die 1072. Ausgabe der Krimireihe ist kein Krimi, sondern ein waschechter Thriller. Der guten Unterhaltung tut das keinen Abbruch, denn statt von der Suche nach der Auflösung lebt der Tatort von der Suche nach Einbrecherin Maja und deren Odyssee durch die umliegenden Wälder, in der Falke und Grosz über weite Strecken allein die Nadel im Heuhaufen suchen. Heimlicher Star des Films ist die glänzend aufgelegte Michelle Barthel (Nacktszene inklusive), die schon 2011 im Hamburger Tatort Leben gegen Leben groß aufspielte: Der um Freund und Gesundheit gebrachten Täterin mit Rachegelüsten drücken wir bei ihrer Flucht vor Polizei und Bürgerwehr bis zum dramatischen Showdown fast ein wenig die Daumen. Kleinere Holprigkeiten im Drehbuch müssen wir allerdings verschmerzen: Ihre mit dem Konterfei des Partners ausgestatteten Smartphones lassen die Einbrecher praktischerweise entsperrt im Fluchtauto zurück, der Wald bietet besten Handyempfang und das zarte Bellen der schlafmützigen Wachhunde von Hundeschulbesitzerin Heike (Angelika Richter) ringt unerwünschten Eindringlingen kaum ein müdes Lächeln ab. Auch die gewaltbereiten Nachbarschaftswächter wirken etwas überzeichnet, doch begehen die Filmemacher zumindest nicht den Fehler, alle Hetzer plump über einen Kamm zu scheren: Die Gruppendynamik unter den besorgten Bürgern beleuchten sie wohltuend differenziert und wissen dabei zwischen aggressivem Anführer, gehorsamem Mitläufer und reumütigem Täter zu unterscheiden.

Bewertung: 7/10

Wir kriegen euch alle

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Folge: 1073 | 2. Dezember 2018 | Sender: BR | Regie: Sven Bohse
Kritik zum 1073. Tatort "Wir kriegen euch alle" mit Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) aus München.
Bild: BR/Tellux-Film Gmbh/Hendrik Heiden
So war der Tatort:

Blauäugig – und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Denn da ist zum einen die gar nicht mal so niedliche Smartpuppe Senta mit den leuchtenden blauen Augen, die in vielen Münchner Kinderzimmern ein Zuhause gefunden hat – eine Rentnerin, die die Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) tot in ihrer Wohnung finden, hatte das in Deutschland verbotene Spielzeug in Österreich gekauft und an Kinder verschenkt, bei denen sie einen Missbrauch durch die eigenen Eltern vermutete. Ein bisschen blauäugig aber vielleicht auch von den Drehbuchautoren Michael Proehl (Das Haus am Ende der Straße) und Michael Comtesse (Dein Name sei Harbinger), zu glauben, ein verstörtes Kind würde sich zum Herzausschütten ausgerechnet einer Puppe anvertrauen, deren Augen im Dunkeln so bedrohlich funkeln wie in einem Horrorfilm – Annabelle oder Chucky lassen grüßen. Und blauäugig agiert in Wir kriegen euch alle auch Assistent Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer) – der will in einer Pressemitteilung zur Suche nach den in München verstreuten Senta-Puppen auf den Zusammenhang mit möglichem sexuellen Missbrauch hinweisen und stößt mit diesem naiven Vorschlag erwartungsgemäß auf wenig Gegenliebe. Batic und Leitmayr gehen cleverer vor: Nachdem die Eltern der mutmaßlich missbrauchten Lena Faber (Romy Seitz) brutal ermordet werden, schleust sich Batic undercover bei den "Anonymen Überlebenden von Kindesmissbrauch" ein, während Leitmayr dort in offizieller Mission anklopft und bei Gruppenleiter Gerd Schneider (Thomas Limpinsel, Requiem) auf Granit beißt.
Leitmayr: "Sagen Sie, das ist doch 'ne Gesprächsgruppe hier, oder? Ich finde, dafür reden Sie relativ wenig."
Sechs Wochen nach dem durchwachsenen Cyber-Tatort KI wagen sich die Filmemacher in München erneut an ein digitales Thema – das Bemerkenswerteste am 1073. Tatort sind aber weniger die per App bedien- und leicht manipulierbaren Smartpuppen, sondern der Besuch des Weihnachtsmanns mit Machete, der in Wir kriegen euch alle anstelle von Geschenken den Tod bringt. Wer glaubt, der Tatort spiele zur passenden Jahreszeit, was angesichts der TV-Premiere am 1. Advent durchaus nahe läge, liegt allerdings falsch: In München herrscht herrliches Frühlingswetter, was die kleinen Kinder, die dem als Santa Claus maskierten Mörder ihrer unter Missbrauchsverdacht stehenden Eltern ahnungslos die Tür öffnen, nicht im Geringsten stört. Neben solchen Ungereimtheiten offenbaren sich auch Schwächen bei der Figurenzeichnung: Während der stark aufspielende Leonard Carow (Mord auf Langeoog) als psychisch labiler Hasko reichlich Kamerazeit bekommt, spielt der unterforderte Jannik Schümann (Gegen den Kopf) mit dem partyfreudigen Schulabgänger Louis nur die Karikatur eines ungeliebten Sohnes, der den hohen Ansprüchen seines strengen Vaters Volker (Stephan Schad, Herrenabend) nicht gerecht wird. Wirklich kennenlernen dürfen wir den mit Nerdbrille und Jogginganzug schon rein optisch stark überzeichneten Faulenzer nicht: Seine Liebe zum asiatischen Au-Pair-Mädchen Maggie (Yun Huang) bleibt reine Behauptung und gipfelt in einem unfreiwillig komischen Finale, bei dem ein schwarzer Regenschirm die entscheidende Rolle spielt. Spaß macht der Film trotzdem, denn die Geschichte fällt zwar nicht sonderlich glaubwürdig aus, wartet aber mit ironischen Zwischentönen und tollen Spannungsmomenten auf: Regisseur Sven Bohse (Borowski und das Land zwischen den Meeren) inszeniert eine vor allem ästhetisch überzeugende Kreuzung aus einem düsteren Missbrauchsthriller mit Horror-Anleihen und einem heiteren Krimi. Trotz des fesselnd in Szene gesetzten und überraschend brutalen Auftaktmords kommt der Humor in der Folge nämlich nicht zu kurz: Zu den spaßigsten Momenten zählen eine spontane Räuberleiter und Batic' verzweifelte Versuche, mit seinem Smartphone ein Mobilfunknetz zu finden, ehe ein Hund seine Pläne durchkreuzt. Auch die Auflösung ist keineswegs Formsache: Der bemitleidenswerte Hasko, dem die Kommissare ähnlich wie im herausragenden Münchner Fall Der tiefe Schlaf aufgrund einer körperlichen Auffälligkeit auf die Schliche kommen, ist einfach viel zu verdächtig, als dass er als (alleiniger) Mörder infrage käme – und auch der Krimititel im Plural lässt erahnen, dass wohl noch jemand seine Finger im Spiel hat.

Bewertung: 6/10

Vom Himmel hoch

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Folge: 1074 | 9. Dezember 2018 | Sender: SWR | Regie: Tom Bohn
Bild: SWR/Alexander Kluge
So war der Tatort:

Wenig weihnachtlich, wenngleich der pfiffige Krimititel, die TV-Premiere im Dezember und die Temperaturen in der Kurpfalz das durchaus nahelegen: Vom Himmel hoch thematisiert – anders als der vielgelobte Münchner Vorgänger Wir kriegen euch alle– nicht den Besuch des Weihnachtsmannes oder das Fest der Liebe, sondern den Drohnenkrieg und dessen Folgen für die US-Soldaten und zivilen Opfer aus dem Nahen Osten. Der Ludwigshafener Psychiater Dr. Steinfeld hat sich auf die Behandlung von Menschen mit entsprechenden Traumata spezialisiert – und als er eines morgens tot in seiner Praxis liegt, suchen Hauptkommissarin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) und ihre Partnerin Johanna Stern (Lisa Bitter) den Täter im Kreise seiner Patienten. Ähnlich wie seine Kollegen im Saarbrücker Tatort Heimatfront oder im Leipziger Tatort Todesbilder beschäftigt sich Regisseur und Drehbuchautor Tom Bohn (Kalter Engel) in seiner stimmigen Kreuzung aus klassischem Krimi und politisch angehauchtem Psychothriller mit der Frage, was die persönlichen Erfahrungen im Krieg mit der Seele eines Menschen anrichten können. Dabei hält sich Bohn, der bei Minute 51 ein nettes Easter Egg in seinem 17. Tatort platziert, eine knappe Stunde lang an die wesentlichen Standardmomente der Krimireihe: Leichenfund zum Auftakt, Befragung der Zeugen und Verdächtigen, Erkenntnisse der Rechtsmediziner und natürlich der obligatorische Konflikt mit dem arroganten Staatsanwalt (hier: Max Tidof, Ein Sommernachtstraum), der den engagierten Kommissarinnen mehrfach in die Ermittlungen grätscht.
Odenthal: "Das ist scheiße, Herr Oberstaatsanwalt!"
Oberstaatsanwalt: "Ich weiß, Frau Odenthal."
Mit seinem Psychogramm kratzt Bohn aber nur an der Oberfläche, statt tief in die Gefühlswelt seiner Figuren vorzudringen: Die Vorgeschichte der depressiven Heather Miller (großartig: Lena Drieschner) illustriert er in trashigen Flashbacks, die die US-Soldatin bei Einsätzen im Drohnenkrieg zeigen, ehe sie sich Stern gegenüber öffnet. Über den tatverdächtigen Mirhat Rojan (Cuco Wallraff), der seine Kinder im Irakkrieg verloren hat, und seinen kurdischen Bruder Martin (Diego Wallraff, Engel der Nacht), erfahren wir dagegen so gut wie nichts: Der tragische Verlust wird auffallend kurz beleuchtet und lässt den Zuschauer entsprechend kalt. Dabei wäre im Drehbuch Platz für den nötigen Tiefgang gewesen, hätte man woanders gekürzt: Die Eheprobleme von Verhaltenstherapeutin Dr. Christa Dietrich (Beate Maes, Die Liebe und ihr Preis), mit dem sich das Opfer seine Praxis geteilt hat, bringen die Geschichte keinen Deut voran und dienen eher als halbherzige falsche Fährte im Hinblick auf die Auflösung des Mordfalls. Der ist nach gut 50 Minuten aber geklärt, so dass sich der Film im Schlussdrittel zum spannenden Thriller wandelt und dann auch seine stärksten Momente hat: Ähnlich wie im Dortmunder MeilensteinSturm, im Hamburger Tatort Zorn Gottes oder im Bremer Flop Der hundertste Affe gilt es für Odenthal und Stern, ein Attentat auf Jason O'Connor (Peter Gilbert Cotton, Zwischen den Fronten) zu verhindern – der Staatssekretär des US-Verteidigungsministeriums will sich in einem Luxushotel mit General Peter Huffing (Jim Boeven) und dem deutschen Verteidigungsminister treffen. Auch sonst hat sich nach den desaströsen Impro-Experimenten Babbeldasch und Waldlust in Ludwigshafen manches in die richtige Richtung entwickelt: Das nervtötende Gezicke, das den Großteil der Sternschen Einsätze zur anstrengenden Geduldsprobe werden ließ (vgl. LU), ist endgültig Geschichte. Vielmehr schweißt der 1074. Tatort die Kommissarinnen zusammen, und auch Assistentin Edith Keller (Annalena Schmidt) und Kriminaltechniker Peter Becker (Peter Espeloer) werden diesmal sinnvoll in die Handlung eingebunden, statt sie auf Stichwörter zu reduzieren oder der Lächerlichkeit preiszugeben. Und dann ist da noch die Szene, bei der jedem Fan von Mario Kopper (Andreas Hoppe) warm ums Herz wird: Die dienstälteste Tatort-Ermittlerin schwelgt im Präsidium beim Blick auf das Abschiedsgeschenk ihres Ex-Kollegen in Erinnerungen und verdrückt ein paar Tränen – so wenig elegant sich der Abgang des deutsch-italienischen Kommissars in den letzten Jahren gestaltet hatte, so rührend ist dieser nostalgische Moment, den Stern erst erkennt und dann mit der Sensibilität einer Abrissbirne beendet.
Stern: "Jetzt haste ja mich."
Bewertung: 6/10

Damian

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Folge: 1075 | 23. Dezember 2018 | Sender: SWR | Regie: Stefan Schaller
Bild: SWR
So war der Tatort:

Raffiniert arrangiert. Denn nach seinem tollen Skript zum beklemmenden Saarbrücker Tatort Hilflos, der zu den besten Tatort-Folgen des Jahres 2010 zählte, legt Regisseur und Drehbuchautor Stefan Schaller bei seiner zweiten Arbeit für die Krimireihe einen weiteren Hochkaräter nach: Damian ist nicht nur eine fabelhaft gespielte, sondern vor allem clever verschachtelte Kreuzung aus klassischem Krimi und aufwühlendem Psychodrama, die dem Zuschauer ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit abverlangt. Wer hier nicht hellwach ist, bleibt angesichts der komplexen Erzählstruktur spätestens bei der Auflösung auf der Strecke, befindet sich dabei aber in guter Gesellschaft: Auch die Freiburger Hauptkommissarin Franziska Tobler (Eva Löbau) und Aushilfskommissar Luka Weber (Carlo Ljubek, ersetzt in diesem Tatort einmalig den erkrankten Hans-Jochen Wagner) schleppen sich übermüdet durch die Ermittlungen, weil sie den Schreibtisch ohnehin voller Arbeit haben und Kripo-Chefin Cornelia Harms (Steffi Kühnert) ihnen gleich vier Todesfälle auf einmal aufs Auge drückt. Ein viele Jahre zurückliegender Mord an einer jungen Frau ist mit dem Doppelmord an einer 17-Jährigen und ihrem Tennislehrer im Hier und Jetzt verknüpft – und dann ist im Schwarzwald auch noch eine Waldhütte abgebrannt, in der die Überreste eines unbekannten Mannes gefunden werden. Was das alles miteinander zu tun hat, offenbart sich erst auf der Zielgeraden – nicht alles im Leben muss schließlich so einfach gestrickt sein wie der tatverdächtige Bauarbeiter Peter Trelkovsky (köstlich: Johann von Bülow, Der schöne Schein), der seine zwei Schäferhunde kurzerhand ins Jenseits befördert, weil er sie auf Montage nicht hätte versorgen können.
Trelkovsky: "Ich wollte nicht, dass die leiden oder hungern."
Weber: "Glauben Sie nicht, dass es da eine andere Lösung gegeben hätte?"
Trelkovsky: "Natürlich, hinterher ist man immer klüger..."
Was Damian zu einer der stärksten Tatort-Folgen des Jahres 2018 macht und dem Film auch eine Nominierung für den Medienkulturpreis auf dem Festival des deutschen Films in Ludwigshafen bescherte, ist aber nicht nur die Tatsache, dass sich Carlo Ljubek bei seinem Gastspiel so harmonisch ins Schwarzwälder Ensemble einfügt oder der selbsternannte Frauenheld Trelkovsky fast jede Szene stiehlt: Es ist das raffinierte Arrangement der verschiedenen Handlungsebenen (im Stile von Christopher Nolans Meisterwerk Memento) und das Installieren eines großartigen Twists (im Stile von David Finchers Klassiker Fight Club), die dem Zuschauer förmlich den Boden unter den Füßen wegziehen – und die im Vorfeld an verschiedenen Stellen angedeutet werden. Und natürlich ist es auch die fantastische Performance von Jungschauspieler Thomas Prenn, der seine erste große TV-Rolle als titelgebender Jurastudent Damian bravourös meistert: Seine mitreißende Performance als von Angstzuständen getriebenes, psychisch labiles und am Erfolgsdruck zerbrechendes Mitglied einer Landsmannschaft, das seiner naiven Freundin Mia (Lena Klenke, Fünf Minuten Himmel) weniger anvertraut als seinem geduldigen Kumpel Georg (Enno Trebs, Dinge, die noch zu tun sind), ist allein schon das Einschalten wert. Und es empfiehlt sich auch unbedingt ein zweites Mal: Seine ganze Klasse entfaltet der 1075. Tatort, dessen außergewöhnliches Drehbuch Stefan Schaller zusammen mit Newcomer Lars Hubrich schrieb, erst nach der zweiten Sichtung – die Anspielungen auf die späteren Aha-Effekte stechen einem dann nur so ins Auge (Beispiele: Prospekt auf dem Schreibtisch, Wasserspender im Präsidium oder Schnaps auf der Studentenparty). Das Chaos in Damians Kopf und an den Wänden seines staubigen Studienzimmers spiegelt sich im Chaos am Arbeitsplatz der Kommissare – und auch der eine oder andere Zuschauer dürfte nach dem Abspann noch ein paar Minuten brauchen, um seine Gedanken neu zu sortieren und das Gesehene in all seiner Komplexität zu verarbeiten. Einen herben Schönheitsfehler hat Damian dann aber doch: Die überzeichnete Polizeiberaterin Meike Richter (unterfordert: Nora von Waldstätten, Herz aus Eis) wirkt als alberner Sidekick im Präsidium von Beginn an völlig deplatziert und bleibt ihre Daseinsberechtigung für die Geschichte bis zum Schluss schuldig.

Bewertung: 9/10

Der Turm

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Folge: 1076 | 26. Dezember 2018 | Sender: HR | Regie: Lars Henning
Bild: HR/Degeto/Bettina Müller
So war der Tatort:

Cariddifrei. Denn bei ihrem achten Einsatz bekommen die Frankfurter Hauptkommissare Anna Janneke (Margarita Broich) und Paul Brix (Wolfram Koch) bereits zum dritten Mal einen neuen Vorgesetzten: Weil Fosco Cariddi (Bruno Cathomas), der im Januar 2017 Henning Riefenstahl (Roeland Wiesnekker) abgelöst hatte, gerade auf einer Tagung weilt, übernimmt Staatsanwalt Bachmann (Werner Wölbern, Nachbarn) kommissarisch die Leitung des Präsidiums. In dem ist Janneke diesmal aber gar nicht anzutreffen: Nachdem im nächtlichen Bankenviertel der Mainmetropole eine halbnackte Frauenleiche gefunden wird und Brix noch im Stau steht, wagt sich die passionierte Fotografin allein ins Innere des titelgebenden Turmes, wird beim Knipsen im Halbdunkeln niedergeschlagen und landet prompt mit einem Schädel-Hirn-Trauma auf der Krankenstation. Brix muss lange Zeit mit seinem Kollegen Jonas (Isaak Dentler) vorlieb nehmen – der erledigt bei den Ermittlungen die Fleißarbeit im Büro, während sich Brix in bester Wutbürger-Manier im Frankfurter Finanzmilieu und in Streitgesprächen mit Bachmann aufreibt, wie man es bei anderen Kommissaren der Krimireihe schon unzählige Male in variierter Form beobachten konnte. Auch nach Feierabend lässt ihn Der Turm und das, was sich in seinem Inneren abspielt, aber nicht los: Er fühlt den zwei jungen IT-Nerds und Busenkumpels Jonathan (Rouven Israel) und Bijan (Rauand Taleb, Sturm) auf den Zahn, die für den im Turm ansässigen Finanzdienstleister tätig sind und ihm bei Sushi und Importbier einen Crashkurs in Sachen Microtrading geben.
Jonathan: "Wir haben gleich beim Mathe-Einführungsseminar gemerkt: Das passt."
Bijan: "Er hat immer die schlauesten Fragen gestellt."
Jonathan: "Und er hat sie beantwortet. Da hat der Algorithmus gepasst."
Es sind auch hölzerne Dialogzeilen wie diese, die den 1076. Tatort zu einem der bis dato schwächsten Fälle mit Janneke und Brix machen: Regisseur und Drehbuchautor Lars Henning wagt sich mit dem dubiosen und meist millionenschweren Gebaren im Finanzsektor an ein sperriges Thema, das zum Beispiel in der ZDF-Arte-Serie Bad Banks schon deutlich gekonnter (und packender) aufbereitet wurde als in diesem enttäuschenden und über weite Strecken ziemlich zähen Tatort. Denn hier erleben wir – dafür sind die beiden IT-Experten das beste Beispiel – fast ausschließlich stereotype Figuren und das große Stochern im Nebel: Die unterkühlt-affektierte Rechtsanwaltin Dr. Rothmann (Katja Flint, Kunstfehler), die ihre finanzkräftigen Investoren und Klienten bei Nachforschungen von Polizei und Aufsichtsbehörden aus der Schusslinie hält, lässt den verärgerten Brix schon bei der ersten Begegnung im Verhörraum eiskalt abblitzen und beim späteren Espresso mit Janneke auch nur das durchklingen, was man ihr in ihrer Funktion als kommissarische Geschäftsführerin der investierenden Firmen nicht zum Nachteil auslegen könnte. Die auffallend düster in Szene gesetzte, fast durchgehend aus der Froschperspektive fotografierte und fürs Auge undurchdringliche Fassade des titelgebenden Turms (der Hessische Rundfunk drehte den Krimi im mittlerweile abgerissenen Deutsche Bank Investment Banking Center) steht damit exemplarisch für die Mängel des Drehbuchs, denn statt wirklich zum Herzstück seines Themas durchzudringen, kratzt Henning beim Ausflug ins Finanzmilieu Mainhattans nur an der Oberfläche. Auch die Spannung köchelt trotz der auffallend düsteren Inszenierung und der stimmigen Atmosphäre auf Sparflamme: Anders als im mitreißenden Tatort Außer Gefecht, der zu großen Teilen im Münchner Olympiaturm spielte, vermögen die Filmemacher diesem reizvollen Mikrokosmos nur wenig Aufregendes abzugewinnen. Wirklich spannend wird es erst auf der Zielgeraden, als die Ermittler ins Innere des Turmes vordringen – die Auflösung fällt dann allerdings dermaßen unbefriedigend und halbgar aus, dass das kurze Zwischenhoch angesichts der plumpen Moral mit dem Zaunpfahl schnell wieder der Ernüchterung weicht. Damit entwickelt sich der Fadenkreuzkrimi vom Main nach seinen so konstant überzeugenden Anfangsjahren (vgl. Hinter dem Spiegel oder Die Geschichte vom bösen Friederich) zunehmend zur Wundertüte, weil großartigen Folgen wie dem Vorgänger Unter Kriegern auch immer häufiger Rückschläge wie Land in dieser Zeit oder missglückte Experimente wie der Horror-Tatort Fürchte dich gegenüberstehen. Oder eben Der Turm.

Bewertung: 4/10

Friss oder stirb

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Folge: 1077 | 30. Dezember 2018 | Sender: SRF | Regie: Andreas Senn
Bild: ARD Degeto/ORF/Daniel Winkler
So war der Tatort:

Verhandlungssicher. Denn nicht nur die Luzerner Hauptkommissare Reto Flückiger (Stefan Gubser) und Liz Ritschard (Delia Mayer) versuchen sich bei ihrem drittletzten gemeinsamen Einsatz als knallharte Dealmaker: Die Drehbuchautoren Jan Cronauer und Matthias Tuchmann (Dein Name sei Harbinger) haben den Ermittlern für ihre Abschiedstournee einen packenden Geiselnahme-Thriller geschrieben, bei denen alle Beteiligten in bester Verhandlungssache-Manier versuchen, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Dabei sieht anfangs noch alles nach einem Whodunit nach altbewährtem Schema aus, weil die Leiche einer Wirtschaftsprofessorin gefunden wird – und in der folgenden Viertelstunde geschieht dann leider das, was in der Schweiz schon früher auf der Tagesordnung stand und zuletzt durch den handwerklich herausragenden One-Take-Tatort Die Musik stirbt zuletzt etwas in Vergessenheit geriet. Hölzern geschriebene und zugleich lausig synchronisierte Dialoge der Kommissare mit Spurensichererin Corinna Haas (Fabienne Hadorn) stellen die Weichen zunächst in die falsche Richtung, ehe der Film unter Regie von Filmemacher Andreas Senn (Das Recht, sich zu sorgen) zum Glück seine erste von mehreren tollen Kehrtwenden hinlegt. Denn die Ermittlungen führen Flückiger und Ritschard direkt in die pompöse und sündhaft teuer eingerichtete Villa von Unternehmer Anton Seematter (Roland Koch, bis 2016 fünf Mal als Matteo Lüthi in Konstanz zu sehen): Die Visite der Luzerner Kommissare mündet in die Begegnung zweier Schauspieler, die einst diverse Gastspiele an der Seite der Konstanzer Tatort-Kollegen Klara Blum (Eva Mattes) und Kai Perlmann (Sebastian Bezzel) gaben – zuletzt in Der schöne Schein und in Wofür es sich zu leben lohnt. Das wird im Drehbuch augenzwinkernd gewürdigt.
Flückiger: "Wo waren Sie gestern Abend?"
Seematter: "Gestern? Gestern war Sonntag, da schau ich eigentlich immer Tatort."
Mit dem Eintreffen der Kommissare, die in der Folge ebenso wie Seematter, seine eifersüchtige Frau Sofia (Katharina von Bock) und seine verwöhnte Tochter Leonie (Cecilia Steiner) zu Geiseln des um seinen Job gebrachten Ex-Familienvaters Mike Liebknecht (Misel Maticevic, Die Faust) werden, streift Friss oder stirb das klassische Krimikorsett ab, ohne die Auflösung des Mordfalls dabei aus dem Blick zu verlieren, und entwickelt sich zum spannenden Echtzeit-Thriller, bei dem zu Klängen der Rolling Stones, Johnny Cash oder Nick Cave reichlich Blut fließt und eine überraschende Wendung die nächste jagt. Die groteske Verhandlung Liebknechts mit Seematter, der dem Geiselnehmer erstmal erklärt, warum seine Forderungen an ihn inflationsbedingt zu gering angesetzt sind, ist dabei nur einer von mehreren aberwitzigen Einfällen und findet im mutigen Drehbuch ebenso den richtigen Platz wie ein wilder Shootout im Keller, die anschließende Verbrüderung zweier schwitzender Männer oder das Gezicke von Rich Kid Leonie, die während der Geiselnahme erstmal eine Line Koks auf dem Klo zieht und später mit Flückiger im Panikraum landet. Das Charisma anderer Tatort-Geiselnehmer (man denke zum Beispiel an Christian Berkel in Schwarzer Advent, Hinnerk Schönemann in Franziska oder Armin Rohde in Das Haus am Ende der Straße) besitzt Liebknecht freilich nicht, was auch der groben Figurenzeichnung geschuldet ist, und doch bringt man ihm beim dramatischen Showdown fast ein wenig Verständnis für die von langer Hand geplante Verzweiflungstat entgegen: Friss oder stirb ist nicht nur ein spannendes Kammerspiel zwischen eigenwilliger Kunst und eindrucksvollem Prunk, sondern auch ein Tatort über ungleich verteilte Chancen und Privilegien, die keine mehr wären, wenn sie jeder genießen dürfte. Was den tollen Gesamteindruck der 1077. Tatort-Folge erheblich schmälert, ist neben der dünnen Charakterzeichnung, die hinter Action und Dramatik hintenansteht, vor allem der nervtötende Auftritt des überzeichneten Regierungsrats Eugen Mattmann (Jean-Pierre Cornu), der bei den telefonischen Verhandlungen mit Ritschard über das Zeitfenster fürs geplante Stürmen der Villa zum wiederholten Male unter Beweis stellt (vgl. Zwei Leben, Schutzlos), warum ihm nach dem für 2019 angekündigten Ende des Luzerner Tatorts wohl nur die allerwenigsten Zuschauer eine Träne nachweinen werden.

Bewertung: 8/10

Der höllische Heinz

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Folge: 1078 | 1. Januar 2018 | Sender: MDR | Regie: Dustin Loose
Bild: MDR/Wiedemann&Berg/Anke Neugebauer
So war der Tatort:

Wild-westlich. Denn die Weimarer Hauptkommissare Lessing (Christian Ulmen) und Kira Dorn (Nora Tschirner), die eigentlich gerade die letzten Vorbereitungen für den Besuch von Lessings penibler Mutter treffen wollen, verschlägt es bei ihrem achten gemeinsamen Einsatz in eine waschechte Westernstadt: In "El Doroda" haben kauzige Hobbyisten wie der Ex-Professor Odi (Hans-Uwe Bauer, Fürchte dich) oder familiär gebundene Schausteller wie Showreiter Tom Wörtche (Christoph Letkowski, Zorn Gottes) in der Goldwäscherei, im Tipi oder im Saloon ihren Lebensmittelpunkt gefunden und scheren sich nur noch wenig um das, was außerhalb der Stadtgrenzen vor sich geht. Weil der Besitzer von El Doroda seinen Pächtern allerdings kündigen will, gerät Geschäftsführer Heinz Knapp (Peter Kurth, Das Haus am Ende der Straße) beim Überbringen der schlechten Nachricht erheblich unter Druck – und als Schutzpolizist Ludwig Maria "Lupo" Pohl (Arndt Schwering-Sohnrey) Knapps Vorgesetzten beim Schwimmtraining tot aus der Ilm fischt, zählt Der höllische Heinz genauso zum Kreis der Mordverdächtigen wie alle anderen El-Doroda-Bewohner. Die Drehbuchautoren Murmel Clausen und Andreas Pflüger, die bei Minute 49 ein nettes Easter Egg in ihre kurzweilige Krimikomödie eingebaut haben und auch die bisherigen Tatort-Folgen aus Thüringen konzipierten, holen das Lasso raus und schicken Lessing und Dorn auf einen zwar realitätsfernen, aber amüsanten Ausflug in die Welt der Cowboys und Indianer. Da darf ein echtes Cowgirl nicht fehlen – und so meldet sich Dorn prompt freiwillig zum Undercover-Einsatz im Sattel.
Dorn: "Pferd, Longhorn, Esel, Hirsch – ich reite alles, was 'n Fell hat."
Filmemacher Dustin Loose, der zuletzt beim starken Dresdner Tatort Déjà-vu Regie führte, schlägt bei seiner zweiten Arbeit für die öffentlich-rechtliche Erfolgsreihe deutlich seichtere Töne an und inszeniert einen sympathischen Schmunzelkrimi, der mit unzähligen Anspielungen auf die populären Karl-May-Verfilmungen, die beliebten Lucky-Luke-Comics oder berühmte Italo-Western wie Eine Handvoll Dollar und Spiel mir das Lied vom Tod gespickt ist. Nicht von ungefähr wohnte der Tote in der "Sergio Leone Suite", wenngleich auch das Mafia-Epos Der Pate zitiert wird: Der höllische Heinz findet den blutigen Kopf seines heißgeliebten Longhorn-Rindes im Bett – die Pferde hingegen überleben diesen Tatort anders als in Francis Ford Coppolas Meisterwerk allesamt. Auch die Hauptdarsteller gehen dahin, wo's weh tut: Während Nora Tschirner bei den ungedoubleten Szenen im Sattel keine allzu glückliche Figur macht, stürzt Ulmens Lessing beim heimlichen Beschatten von Tiefbau-Unternehmerin Ellen Kircher (Marie-Lou Sellem, Zorn Gottes) und deren einfältigem Sohn Nick (Martin Baden, Tiere der Großstadt) in voller Montur in eine Teertonne. Das obligatorische Federn bleibt ihm (anders als so manchem Westernschurken) zwar erspart, in die spaßigste Sequenz im 1078. Tatort mündet das Ganze aber trotzdem. Auch Dorn verbucht viele Lacher für sich, weil sie mit scharfzüngigen One-Linern aus allen Rohren feuert. Ansonsten schießen die Filmemacher mit den Gags in bester Schrotflinten-Manier in die Breite: Von pfiffigem Wortwitz ("Das war Knapps!") über subtile Situationskomik bis hin zu absurden Kalauern wird zu stimmungsvollen Banjo-Klängen alles geboten. Wer in der Hoffnung auf vielschichtige Figuren oder einen packenden Krimi einschaltet, guckt in Weimar allerdings erneut in die Röhre: Sieht man von der atmosphärisch dichten Eröffnungssequenz im nächtlichen El Doroda ab, entsteht kaum einmal etwas Spannung. Im Vergleich zu den 2018 erneut zu den Tatort-Quotenkönigen gekürten Kollegen Frank Thiel (Axel Prahl) und Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) wirkt in Thüringen aber (noch) vieles origineller und deutlich abwechslungsreicher. Parallelen ergeben sich diesmal im Hinblick auf Sidekick Lupo: Ist es in Münster meist der eitle Professor, der sich beim Frönen neuer Hobbies und Leidenschaften in schöner Regelmäßigkeit zum Affen macht, trainiert hier der treudoofe Schutzpolizist für den Weimarer "Ultraman" und nimmt es allein mit einer ganzen Motorradgang auf, um dann beim ersten Whiskey aus den Stiefeln zu kippen.

Bewertung: 6/10

Weiter, immer weiter

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Folge: 1079 | 6. Januar 2019 | Sender: WDR | Regie: Sebastian Ko
Bild: WDR/Martin Valentin Menke
So war der Tatort:

Inhaltlich auffallend verwandt mit dem zwei Wochen zuvor gesendeten Schwarzwald-Tatort Damian– im direkten Vergleich aber eine ganze Ecke schwächer. Denn die Drehbuchautoren Jan Martin Scharf und Arne Nolting, die zuletzt den tollen Hamburger Tatort Alles was sie sagen konzipierten, setzen bei ihrem Krimi auf einen deutlich massenkompatibleren Ansatz: Waren große Teile des TV-Publikums mit den Zeitsprüngen und der verschachtelten Erzähltechnik in Damian hoffnungslos überfordert, übernehmen die Kölner Hauptkommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) das Denken für den Zuschauer gleich mit. Entgegen dem erzählerischen Erfolgsrezept Show, don't tell kommentieren sie in Weiter, immer weiter nämlich oft Dinge, die die Bilder längst geschildert haben, oder sie fassen die neuesten Erkenntnisse auf dem Weg zu Freddys Dienstwagen noch einmal zusammen – wer ein paar Minuten geistig abwesend ist, wird von den Filmemachern sanft aufgefangen. Ganz anders ergeht es den beiden Polizisten Frank Lorenz (charismatisch: Roeland Wiesnekker, bis 2016 vier Mal als Kommissariatsleiter Henning Riefenstahl im Tatort aus Frankfurt zu sehen) und Vera Kreykamp (Laina Schwarz, Er wird töten), die der Kölner Streifenalltag mit voller Härte erwischt: Erst müssen sie einleitend machtlos mitansehen, wie der junge Drogendealer Pascal Pohl (Wolf Danny Homann) bei einer Verkehrskontrolle in Panik vor eine Straßenbahn rennt, und dann kotzt Lorenz bei einem Routineeinsatz am Bahnhof auch noch ein volltrunkener Obdachloser auf die Uniform.
Schenk: "Was riecht denn hier so?"
Lorenz: "Das bin ich. Doppelkorn und Kotze – der Duft vom Deutzer Bahnhof."
Weiter, immer weiter hätte ein beklemmendes Krimidrama über die Überlastung von Polizeibeamten der unteren Dienstränge werden können, in dem sich die Filmemacher – ähnlich wie im Münchner Tatort Macht und Ohnmacht– kritisch mit dem täglichen Druck auf Streife und der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse auseinandersetzen. Das ist hier aber nicht das Ziel: Regisseur Sebastion Ko (Mitgehangen) inszeniert ein reizvolles Rätsel um Wahrheit, Wahrnehmung und Wahrscheinlichkeiten, bei dem der im Umgang schwierige Lorenz den Kölner Kommissaren regelmäßig in ihren Zuständigkeitsbereich funkt. Er will sich einfach nicht damit abfinden, dass der Tod des Dealers ein tragischer Unfall war, sondern vermutet die Mafia hinter der Sache: Pohl wurde vor der Verkehrskontrolle angeblich von einem Wagen einer russischen Feinkostfirma gejagt – doch weil Geschäftsführerin Irina Nikitina (Katerina Medvedeva, Bienzle und der Feuerteufel) sich bei der Befragung ebenso ahnungslos gibt wie ihr Sohn Nikolaj (Vladimir Burlakov, Du gehörst mir) und der einflussreiche Roman Beresow (Jevgenij Sitochin, Kriegssplitter), verlaufen die Ermittlungen der Kommissare im Sand. Es ist typisch für den Tatort aus der Domstadt, dass Lorenz' Theorie die Kommissare dennoch gegeneinander aufbringt, obwohl die Substanz für weitere Nachforschungen eigentlich fehlt: Während "Schenki", der Lorenz noch von früher kennt, der Theorie Aufmerksamkeit schenkt und sogar den freien Dienstagabend für einen Kneipenbesuch mit dem Ex-Kollegen opfert, stößt Lorenz bei Ballauf auf taube Ohren. Die Spannungen sind vorprogrammiert – und so ist es einmal mehr der schlafmützige Assistent Norbert Jütte (Roland Riebeling), der im Präsidium für Entschleunigung sorgt und den sympathischen Ruhepol im 1079. Tatort bildet. Auf der Zielgeraden zünden die Filmemacher dann noch eine Rakete und offenbaren eine pfiffige Auflösung, die stark an den einleitend erwähnten Aha-Effekt in Damian erinnert, wenngleich er nicht ganz so überraschend ausfällt: Wenn Lorenz nach einem harten Arbeitstag heimkommt und seiner gleichaltrigen Schwester Mecki (Annette Paulmann, Das Dorf) sein Herz ausschüttet, bleiben deren Ratschläge auffallend blutleer und substanzlos – und auch der starke Fokus der Handlung auf ihren psychisch labilen Bruder verstärkt früh den Verdacht, dass hier irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Dennoch zählt der 74. Fall von Ballauf und Schenk nach viel Mittelmaß in den Vorjahren (vgl. Tanzmariechen, Nachbarn, Familien) oder dem überraschend schwachen Bausünden zu den stärkeren Tatort-Folgen aus Köln – mit weniger Plattitüden und etwas mehr Klasse als Kitsch (z.B. der Einsatz des Chores in der Schlusssequenz) hätte aus Weiter, immer weiter sogar ein echter Überraschungshit werden können.

Bewertung: 7/10

Wahre Lügen

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Folge: 1080 | 13. Januar 2019 | Sender: ORF | Regie: Thomas Roth
Bild: ARD Degeto/ORF/Cult Film/Petro Domenigg
So war der Tatort:

Fredofrei. Denn die Wiener Sonderermittler Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Bibi Fellner (Adele Neuhauser) müssen bei ihrem 20. gemeinsamen Einsatz nicht nur auf die Insidertipps der kultigen Kiezgröße Inkasso-Heinzi (Simon Schwarz, starker Auftritt im Vorgänger Her mit der Marie!), sondern auch auf die Unterstützung ihres Assistenten Fred "Fredo" Schimpf (Thomas Stipsits) verzichten: Der weilt in Wahre Lügen auf einer Fortbildung – und so reisen die Ermittler allein an den im tristen Regenwetter wenig malerischen Wolfgangsee, aus dessen Tiefen die tote Investigativjournalistin Sylvie Wolter (Susanne Gschwendtner, Gier) gezogen wurde. Wie gewohnt mit von der Partie ist aber ihr Chef Ernst Rauter (Hubert Kramar), der in seiner Sandwich-Position einmal mehr den Vermittler zwischen den Kommissaren und seinen Vorgesetzten aus der Politik spielt: Diesmal ist es die Generaldirektion für Innere Sicherheit in Person der aalglatten Dr. Maria Digruber (Franziska Hackl, Glaube, Liebe, Tod) und ihres arroganten Sekretärs Lukas Kragl (Sebastian Wendelin, Wehrlos), die Eisner und Fellner bei ihren Ermittlungen im Mordfall und den Hintergründen um illegale Waffengeschäfte in die Schranken weist und mit entscheidenden Informationen hinterm Berg hält. Auch in diesem Wiener Tatort setzen sich die Sonderermittler aber eigenmächtig über die Anweisungen hinweg und recherchieren im Sinne der Gerechtigkeit weiter – müde Machtspielchen wie diese sind nur ein Beispiel dafür, wie wenig Neues die Filmemacher in diesem über weite Strecken einfallslosen Krimi vom Reißbrett zu erzählen haben.
Rauter: "Illegale Waffendeals, eine tote Journalistin, die angeblich zu viel gewusst hat... Kinder, das haben wir doch alles schon gehabt und das ist jedes Mal im Sand verlaufen."
Im Sande verlaufen die Nachforschungen im 1080. Tatort allerdings nicht: Regisseur und Drehbuchautor Thomas Roth (Die Kunst des Krieges) verknüpft die Ermordung der Journalistin mit dem Jahrzehnte zurückliegenden Tod des früheren österreichischen Verteidigungsministers, dessen Umstände nie lückenlos aufgeklärt wurden und der den Zeitzeugen Hans-Werner Kirchweger (Peter Matic, Ausgelöscht) auf den Plan ruft. Ein durchaus reizvoller Ansatz, doch Überraschungen bleiben dabei aus: Roth reiht bei seiner Geschichte lediglich die üblichen Versatzstücke der Krimireihe aneinander und liefert kaum interessante Figuren. Neben den überzeichneten Mitarbeitern der Generaldirektion fällt ihm auch zum schmierigen Waffenhändler David Weimann (Robert Hunger-Bühler, Schlangengrube) nichts ein, was über die üblichen Klischees hinausgehen würde. Auch der Chefredakteur der Zeitung, für die das Mordopfer schrieb, bestätigt das negative Journalistenbild, das sich im Tatort so häufig beobachten lässt (vgl. Déjà-vu, Lohn der Arbeit): Was für ihn zählt, ist die Schlagzeile, egal auf wessen Kosten sie geht. Die einzige vielschichtige Figur ist die durchtriebene Sybille Wildering (stark: Emily Cox, Kälter als der Tod), deren Motive lange rätselhaft bleiben – nach einer knappen Stunde aber legt Roth plötzlich die Karten auf den Tisch, beschert den Zuschauern einen Wissensvorsprung gegenüber den Kommissaren und nimmt seinem Film mit einer spannend inszenierten Sequenz im Luxushotel den größten Reiz, den er zu diesem Zeitpunkt ausstrahlt. Die Auflösung der klassischen Whodunit-Konstruktion ist damit nur noch Formsache, doch lohnt sich das Einschalten aus anderen Gründen: Zwar müssen wir diesmal – wie einleitend erwähnt – auf "Fredo" Schimpf und Inkasso-Heinzi verzichten, doch widmen sich die Filmemacher ausführlich Fellners Alkoholproblem, das vor allem in ihren grandiosen Anfangsjahren im Wiener Tatort (vgl. Vergeltung, Ausgelöscht) für Lacher am Fließband sorgte. Diesmal wird es allerdings ernst: Nachdem Fellner unter dem strengen Blick einer Ausbilderin (Madallena Hirschal) am Schießstand versagt, springt Eisner seiner Kollegin einfühlsam zur Seite. Momente wie diese sind für die Figurenentwicklung Gold wert und entschädigen ein Stück weit für so manchen logischen Lapsus im Drehbuch (Beispiel: Bärenkräfte nach Durchschuss). Trotzdem ist Wahre Lügen unterm Strich einer der schwächeren Fälle mit Eisner und Fellner: Wenn Kripo-Chef Rauter am Ende die Konsequenzen dessen, was zuvor für so viel Zündstoff gesorgt hat, pragmatisch zusammenfasst und der Fall damit abgeschlossen sein soll, ist das schlichtweg unbefriedigend.

Bewertung: 5/10

Zorn

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Folge: 1081 | 20. Januar 2019 | Sender: WDR | Regie: Andreas Herzog
Bild: WDR/Martin Valentin Menke
So war der Tatort:

Ausnahmsweise mal ziemlich perfekt terminiert. Denn zum Zeitpunkt der TV-Premiere von Zorn ist es gerade einmal vier Wochen her, dass in Bottrop die letzte Steinkohlezeche des Ruhrgebiets ihre Tore für immer geschlossen hat: Schicht im Schacht hieß es dort in den vergangenen Jahren für viele tausend Mitarbeiter, und Schicht im Schacht heißt es auch in diesem authentischen Tatort, der seine Zuschauer in eine Zechensiedlung entführt und damit in einem Arbeitermilieu spielt, das den Ruhrpott über Jahrzehnte geprägt hat. Vorerst weiter geht es für die Dortmunder Hauptkommissare Peter Faber (Jörg Hartmann), Martina Bönisch (Anna Schudt), Jan Pawlak (Rick Okon) und Oberkommissarin Nora Dalay (Aylin Tezel), wenngleich die BILD-Zeitung einen Monat zuvor über den Ausstieg von Hartmann und Tezel spekulierte: Schicht im Schacht ist in Zorn dafür für die ehemaligen Bergleute Andreas Sobitsch (Daniel Fritz), der einleitend ermordet aufgefunden wird, Ralf Tremmel (Thomas Lawinky, Der Wald steht schwarz und schweiget) und Stefan Kropp (Andreas Döhler, Der kalte Fritte), die von ihrem Arbeitgeber die Papiere ausgehändigt bekommen haben und nun vor dem beruflichen Nichts stehen. Ihre alte Zeche Sophie Charlotte wurde in die "Erlebniswelt Kohle & Stahl" umgewandelt, in der man ihnen sogar Jobs angeboten hat – doch nur weil man sein halbes Leben lang unter Tage geschuftet und jahrzehntelang wenig Tageslicht gesehen hat, muss man in der Geisterbahn des neuen Vergnügungsparks für Familien noch lange nicht seine neue Erfüllung finden.
Bönisch: "Hatte Herr Sobitsch 'ne Freundin?"
Kropp: "Andreas? Nö."
Bönisch: "Kontakt zu 'ner Prostituierten?"
Tremmel: "Uns fickt schon jeden Tag das Leben. Reicht dann am Abend."
Was es für einen ehemaligen Bergmann bedeutet, im Spätsommer seines Berufslebens perspektivlos auf der Straße zu stehen, mag man als Unbeteiligter nur erahnen – wirklich schlauer ist man nach der 1081. Tatort-Folge aber auch nicht. Denn Stammautor Jürgen Werner (Tollwut) und Regisseur Andreas Herzog (Eine andere Welt) brechen ihren spannenden Ausflug in die Welt der ehemaligen Kumpel und Steiger, die in Vermittler Klaus Radowski (Peter Kremer, Roomservice) ein neues Feindbild ausgemacht haben, auf halber Strecke ab: Im Mittelteil des Films und der obligatorischen zweiten Leiche nach einer Stunde eröffnen die Filmemacher einen zusätzlichen Schauplatz und bringen die Geschichte damit just in dem Moment vom Kurs ab, in dem es gerade interessant geworden ist (oder ihnen die Ideen im Hinblick auf den Umgang mit dem Strukturwandel im Ruhrgebiet ausgegangen sind). Stattdessen widmen sie sich mit der Einführung des militanten Reichsbürgers Friedemann Keller (Götz Schubert, Kaltblütig) und der egozentrischen Staatsschutz-Kollegin Dr. Klarissa Gallwitz (Bibiana Beglau, Der sanfte Tod) einem Thema, das 2018 in Freies Land schon differenzierter aufgearbeitet wurde: Während sich Fabers subtiler Flirt mit Gallwitz anfangs noch reizvoll gestaltet, münden die Scherereien schon bald in altbekannte Machtspielchen, die sich im Tatort schon sehr häufig beobachten ließen (zuletzt in Wahre Lügen und Der Turm). Der 13. Fall von Faber & Co. driftet damit vorübergehend in die Beliebigkeit ab, zumal sich auch Bönisch auf einen seichten Exkurs begibt: Ihre schlimmen Rückenprobleme lässt sie sich von dem geduldigen Reiki-Spezialisten Nimrod Fellner (Richard van Weyden, Im gelobten Land) kurieren – das sorgt zwar für Schmunzler, wäre im öffentlich-rechtlichen Vorabendprogramm aber kaum schlechter aufgehoben gewesen. Deutlich interessanter gestaltet sich der zwischenmenschliche Totalschaden im Präsidium: War es in den vergangenen Jahren meist Zankapfel Daniel Kossik (Stefan Konarske), der mit Faber aneinandergeriet (vgl. Zahltag), sind es nun sein Nachfolger Pawlak und seine Ex-Freundin Dalay, deren erste Streitereien aus Tod und Spiele konsequent zugespitzt werden und in Zorn sogar in Handgreiflichkeiten gipfeln. Hier ist der gewohnt emotionale Dortmunder Tatort in seinem Element und auch beim Showdown herrscht an zwei Schauplätzen gleichzeitig Spannung: Während Faber mal wieder ein SEK auf die Palme bringt (vgl. Sturm), wagt Dalay einen Alleingang auf dem stillgelegten Zechengelände, dessen spektakuläre Kulisse dem Ruhrpottkrimi hervorragend zu Gesicht steht. Und dann ist da noch Fabers Erzfeind, der Serienmörder Markus Graf (Florian Bartholomäi), der in Auf ewig Dein geschnappt wurde und in Tollwut die Flucht ergriff: Graf kommt zwar diesmal nur auf Fotos vor, wird im Tatort aus Westfalen aber sicher noch einmal zu sehen sein.

Bewertung: 6/10

Der Pakt

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Folge: 1082 | 27. Januar 2019 | Sender: SR | Regie: Zoltan Spirandelli
Bild: SR/Manuela Meyer
So war der Tatort:

Verkorkst. Denn auch im Tatort Der Pakt hat man wieder das Gefühl, dass die Hauptfiguren in Saarbrücken einfach nicht recht harmonieren wollen: Beim letzten Einsatz von Hauptkommissar Jens Stellbrink (Devid Striesow) spielen die Hauptdarsteller in erster Linie für sich selbst – der Eindruck eines eingespielten Teams hingegen will sich auch im achten Anlauf nicht einstellen. Es ist bezeichnend, dass Stellbrinks Kollegin Lisa Marx (Elisabeth Brück) – 2013 im erschreckend schwachen Melindanoch als gleichberechtigte Partnerin angetreten – vor der Kamera nur noch wenige Minuten mit Stellbrink verbringt, während gleichzeitig das vollzogen wird, was sich seit Totenstille im Rahmen einer schleichenden Wachablösung angedeutet hatte: Polizeihauptmeisterin Mia Emmrich (Sandra Maren Schneider) wird zur Kommissarin befördert und ist Marx damit nun auch in Sachen Dienstgrad offiziell ebenbürtig (wird auf der ARD-Website aber bis zum Schluss hartnäckig ausgeklammert). Dass die Chemie zwischen den Hauptdarstellern Striesow und Brück nicht stimmte, ist ein offenes Geheimnis – und angesichts der verkorksten Personalpolitik und dem oft steifen Zusammenspiel aller Beteiligten ist Striesows Entscheidung, den Weg für einen Neuanfang freizumachen, trotz all seiner schauspielerischen Klasse zu verkraften. Denn einmal mehr bezeichnend ist auch, wie Regisseur und Drehbuchautor Zoltan Spirandelli (Söhne und Väter) die beim Publikum unbeliebte Staatsanwältin Nicole Dubois (Sandra Steinbach) hier noch irgendwie in den Plot quetschen muss: Im Rahmen einer Vernissage geflüchteter Künstler darf Dubois zum Abschied exakt drei Sätze sagen – unter anderem diese.
Dubois: "Datteln im Speckmantel? Das ist doch nicht halal."
Ansonsten spendiert Spirandelli, der seinen vierten Stellbrink-Tatort inszeniert und das Drehbuch zusammen mit Michael Vershinin (Söhne und Väter) schrieb, den Zuschauern zum Abschied einen klassischen Whodunit, dessen Auflösung bis in die Schlussviertelstunde offen gehalten wird und sich durchaus knifflig gestaltet: Im Wohnheim eines Krankenhauses wird einleitend die Schwesternschülerin Vanessa (Aylin Werner) erdrosselt aufgefunden – und neben ihrem deutlich älteren Liebhaber Dr. Sharifi (Jaschar Sarabtchian), der sich gemeinsam mit der renommierten Ärztin Annemarie Bindra (Franziska Schubert, Ordnung im Lot) in der Initiative "Mediziner für Asyl e.V." engagiert, sind auch ihre Mitbewohnerin Anika (Lucie Hollmann) und der ägyptische Flüchtling und koptische Christ Kamal (Mehdi Meskar) in den Fall verwickelt. Letzterer arbeitete als Fahrer für die Initiative, gleichzeitig aber auch als Spitzel für den undurchsichtigen Dr. Hesse (Christian Intorp, Der Name der Orchidee) von der Ausländerbehörde – und steht spätestens nach der Flucht aus einem Krankenhaus unter dringendem Tatverdacht. Über die teils wenig erfahrenen Nebendarsteller – Werner steht zum ersten, Sarabtchian zum zweiten Mal vor einer Kamera – mag man kein schlechtes Wort verlieren, absolut indiskutabel ist aber die Leistung einiger Kleindarsteller in Polizeiuniform, die den 1082. Tatort mit ihrem ausdruckslosen Spiel bisweilen der Lächerlichkeit preisgeben. Das ist im ohnehin schon hölzernen Krimi aus Saarbrücken doppelt ärgerlich, zumal auch der Soundtrack schwächelt: Kitschig wird es vor allem dann, wenn sich die Dramatik wie bei einer Schlüsselszene auf einem Gebäudedach oder der obligatorischen zweiten Tatort-Leiche nach einer knappen Stunde nicht von allein entwickeln will. Immerhin: Man hat im Saarland – wir denken an den Totalausfall Eine Handvoll Paradies– in den letzten Jahren schon deutlich schlechteres gesehen, und auch im Hinblick auf die Hauptfigur hat der Saarländische Rundfunk noch eine erfreuliche Kurskorrektur vollzogen: Am Ende geht Jens Stellbrink als geerdeter einsamer Wolf, der über den Dächern der Stadt ein schickes Penthouse bewohnt und bei der Damenwelt wenig Glück hat. Denn war es in Totenstille noch eine gehörlose Bikerin (Kassandra Wedel), die bei dem Dauersingle auf Tuchfühlung ging, datete der Kommissar in Söhne und Väter versehentlich Kollegin Marx und muss sich in Der Pakt der aufdringlichen Ausbilderin Maria Krafft (Nina Vorbrodt, Keine Polizei) erwehren, die ihm bei jeder Gelegenheit schöne Augen macht. Wer Stellbrink an der Saar beerbt, ist im Januar 2019 noch offen: Zukünftig sollen fünf Ermittler auf einmal die Mörder jagen.

Bewertung: 4/10
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