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Channel: Wie war der Tatort?
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Amour fou

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Folge: 1023 | 5. Juni 2017 | Sender: rbb | Regie: Vanessa Jopp

So war der Tatort:

Bild: rbb/Andrea Hansen
Hintergründig. Denn schon lange hat sich kein Tatort mehr so viel Zeit genommen für die Umgebung, in der die Beteiligten aufeinanderprallen: Trotz des Titels, der thematisch an den letzten Münchner Tatort Die Liebe, ein seltsames Spiel anknüpft, verliert sich Amour fou nicht in einem Bäumchen-Wechsel-Dich der freien Liebe, sondern geht den Umständen auf den Grund, die Menschen miteinander verbinden und bei denen ein Mord manchmal als Nebenprodukt mit herauskommt. Mehr noch, das Krimidrama beleuchtet die Auswirkungen, die ein Mord auf die Verantwortlichen hat. Während der Zuschauer es gewohnt ist, die Spannung zwischen gezeigter Tat am Anfang der Sendezeit bis zur Auflösung auszuhalten, wird uns selten gezeigt, wie die in die Tat Involvierten diesen Prozess miterleben: Auch für sie ist zwischen dem Tod eines Menschen und der Aufklärung durch die Berliner Hauptkommissare Nina Rubin (Meret Becker) und Robert Karow (Mark Waschke) alles in der Schwebe. Für diese Schwebe findet Regisseurin Vanessa Jopp (Der schwarze Troll), die mit Meret Becker bereits einen der besten Berlin-Filme, Komm näher gedreht hat, eine Form, die Fragen weit über das übliche "Wer war es?" hinaus stellt. Das Tempelhofer Feld ist der Ruhepol, zu dem der 1023. Tatort immer wieder in langen Bildern ohne Dialoge zurückkommt (herausragende Kamera: Judith Kaufmann, Wem Ehre gebührt). Aber der Tatort hält sich nicht auf mit dem Freiraum auf dem Feld, den jeder füllen kann, wie er möchte, sondern konzentriert sich auf den Culture Clash zwischen den Hochhäusern der Rollbergsiedlung und großbürgerlichen Prunk-Altbauten und führt die Kommissare schön an ihre Grenzen. Lediglich Spurensicherer Knut Jansen (Daniel Krauss), der in einem Laubengarten die schwarze Brandleiche des homosexuellen Gesamtschullehrers Enno Schopper untersuchen muss, kann kulturell mit der Bildungselite mithalten.
Jansen: "Machst'n Schild dran, schickst es zur documenta: Der Mann im Plastikliegestuhl."
Eigentlich muss man diesen Tatort zwei Mal schauen, weil er geschickt die Fragen hinter den Fragen des Mordfalls verschiebt. Die komplexe Erzählstruktur kann man einem erstklassigen Schauspieler wie Jens Harzer (Es lebe der Tod) getrost anvertrauen: Er verkörpert grandios Armin Berlow, den Ehemann des getöteten Lehrers. Sein hintergründiges Spiel eröffnet einen Raum für die Facetten der Trauer, der schwulen Normalität im Problemkiez, der den Kontext des Mordfalls weit überschreitet. Dieser ist jedoch mit zahlreichen Windungen und Wendungen, die Drehbuchautor Christoph Darnstädt (schrieb zuletzt die Bücher zu vier Hamburger Tatort-Folgen mit Tschiller und Gümer) geschickt um das Thema Vorurteile arrangiert hat, ebenfalls sorgfältig gebaut - wenngleich sie dazu führen, dass der Plot in den letzten Minuten etwas überladen wirkt. Nach grandiosen 70 Minuten voller lebendiger Großstadt-Impressionen und einer Meditation über Gefühle, Abhängigkeiten und Lebensentwürfe - nicht zuletzt auch in der Chancenungleichheit, die es in einem reichen Land wie Deutschland immer noch gibt - bekommt die Auflösung in ihren verstricken Motiven etwas zu wenig Ruhe und Raum. Neben dieser feinteiligen Handlung verblasst die eingependelte Kabbelei von Rubin und Karow etwas, weil sie ohne die Motivation der in Dunkelfeld abgeschlossenen Ermittlungen wegen seines getöteten Ex-Partners auf der Stelle tritt. Weiterhin sind die beiden per Sie, weiterhin pflegen sie ihre Unstimmigkeiten - Rubin in ihrer wiederaufgewärmten Ehe, Karow in sexuellen Eskapaden, die gerne auch im Präsidium und im Umfeld der Mordermittlungen ihren Ausgang nehmen. Beide haben gelernt, abends früher zu gehen und laden die Recherchearbeit bei der eifrigen Hospitantin Anna Feil (Carolyn Genzkow) ab - sieht man von Karows neuer Lieblingsmethode, dem Luminoltest, einmal ab, mit dem dieser Tatort seinen kriminaltechnisch volkspädagogischen Auftrag erfüllt. Der Status quo der Ehe von Nina und Viktor Rubin (Alexander Tesla) hingegen dient diesmal in erster Linie als Vergleichsmoment dafür, dass in der heteronormalen Ehe auch nicht unbedingt die große Liebe blühen muss. Trotz der genannten Schwächen ist Amour fou aber ein starker, nachdenklicher Tatort mit herausragenden Schauspielern und einer pfiffigen Schlusswendung - die durch die verträumten Klänge von Charles Trenets La Mer, den französischen Krimititel und ein paar unauffällig eingeflochtene Bilder rauschender Brandungswellen elegant angedeutet wird.

Bewertung: 8/10



Level X

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Folge: 1024 | 11. Juni 2017 | Sender: MDR | Regie: Gregor Schnitzler

So war der Tatort:

Bild: MDR/Gordon Muehle
Online. Denn schon der Auftaktmord in Level X macht deutlich, was den Zuschauer in den folgenden eineinhalb Stunden erwartet: Der populäre Prankster Robin "Simson" Kahle (Merlin Rose) wird nach einem live ins Netz gestreamten Scherz von einer Rockergruppe durch die Dresdner Altstadt gejagt - und kurz darauf nicht nur vor den Augen seiner verdutzten Verfolger, sondern auch vor den Augen tausender Zuschauer in den sozialen Netzwerken von einem Unbekannten erschossen. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt werden Live-Tweets, Avatare und Nicknames der jungen Simson-Follower ins Bild montiert: Regisseur Gregor Schnitzler (Der treue Roy) und Drehbuchautor Richard Kropf erzählen in Zeiten von Julien Bam und des live auf Facebook gestreamten Mordes eines US-Amerikaners eine moderne und im Ansatz vielversprechende Geschichte, doch sie tragen bei der Umsetzung häufig viel zu dick auf. Das offenbart sich zum Beispiel dann, wenn parallel zum Live-Stream die Offline-Reaktionen der gebannten Zuschauer eingefangen werden: Stadtbusse und beliebte Touri-Plätze scheinen in Dresden ausnahmslos von aufgeregten Teenagern mit Smartphones bevölkert zu sein, denn andere Personen sind in diesen Szenen schlichtweg nicht im Bild. Der nähere Blick auf die Figuren offenbart dann Klischees und Stereotypen an allen Ecken und Enden: Die Hauptkommissarinnen Karin Gorniak (Karin Hanczewski) und Henni Sieland (Alwara Höfels) bekommen es unter anderem mit dem bis ins Karikatureske, aber leider nicht ironisch überzeichneten Online-Unternehmer Magnus Cord (Daniel Wagner, Die Kunst des Krieges) zu tun, der den ermordeten Prankster zum Ärger von dessen Vater Raimund Kahle (Jörg Bundschuh) erfolgreich vermarktet hatte und bei den Befragungen pausenlos mit dämlichen Business-Anglizismen aus allen Rohren schießt.
Cord: "Content is king, und er hat delivered."
Während Cord sich früh als nervtötendste Figur der jüngeren Tatort-Geschichte entpuppt, sind seine ultrakreativen junge Mitarbeiter ("Alle Talents, wir sind ein Open Space.") allesamt blasse Nerds oder Vollbart zum Zopf tragende Hipster, die in den Couchmöbeln der futuristischen Büroräume rumlümmeln und ihre Smartphones nur im Notfall aus der Hand legen. Auch Wilson Gonzalez Ochsenknecht (Der Wüstensohn) bleibt bei seiner zweiten Tatort-Rolle als Prankster "Scoopy" ein lebloses Abziehbild. Der tiefe Griff in die Klischeekiste ist aber nicht die einzige Parallele zum schwachen Tatort Echolot, der beim Publikum sang- und klanglos durchfiel und auch für uns der schwächste Tatort des Jahres 2016 war: Wie der Bremer Fadenkreuzkrimi mit Lürsen und Stedefreund knüpft auch Level X an das Motto einer ARD-Themenwoche an - 2017 heißt es "Woran glaubst du?". Dieses thematische Korsett erweist sich erneut als Reinfall: Der 1024. Tatort ist zweifellos ein flotter und stylish inszenierter Krimi, doch die hippe Verpackung kann die klischeebeladenen Figuren und die Drehbuchschwächen bei weitem nicht übertünchen. Dass mit Kommissariatsleiter Peter Michael Schnabel (Martin Brambach) ein waschechter Online-Allergiker zum Team zählt, der mit seinen Sprüchen ("Ich hab dieses verdammte Internet im Verdacht!") schon im durchwachsenen Debüt Auf einen Schlag für Lacher sorgte, kommt den Filmemachern nämlich sehr gelegen: Schnabel muss bei seinem dritten Auftritt ausschließlich dafür herhalten, in der Welt der Hashtags und Live-Pranks nur Bahnhof zu verstehen. Spätestens, als der verheiratete Chef vom IT-Kollegen Ingo Mommsen (Leon Ullrich) beim Surfen auf einer Datingseite ertappt wird, ist dieser Gag endgültig auserzählt. Anders als Gorniak und Sieland, die mit der Trennung von ihrem Freund Ole Herzog (Franz Hartwig) zu kämpfen hat, scheint sich Schnabel als Figur schon beim dritten Auftritt nicht mehr weiterzuentwickeln. So lebt Level X weniger von der dünnen Kritik am Hype um junge Internet-Stars, dem zum Leidwesen der als Pfarrerin tätigen Eva Kohn (Karina Plachetka, Verfolgt) auch deren Tochter Emilia (Caroline Hartig) verfällt, sondern allein von der Suche nach der Auflösung, die in der obligatorischen Verfolgungsjagd gipfelt. Trotz des spannenden Showdowns überwiegen aber die Schwächen, zu denen auch das seltsam uninspiriert eingeflochtene Lokalkolorit zählt: Wie in einem älteren James Bond-Film wurde mit bemerkenswerter Häufigkeit vor Postkarten-Motiven gedreht - sogar das Fußballstadion von Dynamo Dresden wurde als Kulisse für einen komplett überflüssigen Handlungsschlenker noch mit der Brechstange in den Plot gehämmert.

Bewertung: 3/10

Borowski und das Fest des Nordens

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Folge: 1025 | 18. Juni 2017 | Sender: NDR | Regie: Jan Bonny

So war der Tatort:

Bild: NDR/Christine Schroeder
Überfällig. Denn kaum ein anderer Tatort musste so lange auf seine TV-Premiere warten wie Borowski und das Fest des Nordens: Die letzte Klappe fiel im Juli 2015 und eigentlich war der Krimi als Nachfolger für den tollen Psychothriller Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes eingeplant. Doch der NDR zog Borowski und das verlorene Mädchen und Borowski und das dunkle Netz "aufgrund der jeweiligen thematischen Aktualität in der Programmplanung" vor - und so findet der Film von Regisseur Jan Bonny und Drehbuchautor Markus Busch (Feuerteufel), der eine Vorlage des wenige Monate nach den Dreharbeiten verstorbenen Bestseller-Autors Henning Mankell umgesetzt hat, erst zum Start der Kieler Woche 2017 den Weg in die Wohnzimmer. Doch obwohl Borowski und das Fest des Nordens der letzte Tatort mit Sibel Kekilli in der Rolle als Hauptkommissarin Sarah Brandt ist, macht sich die vertauschte Reihenfolge kaum bemerkbar: "Ich habe mich bewusst gegen einen Abschluss-Tatort entschieden, denn man muss eine Geschichte nicht immer auserzählen", gab der frühere Game of Thrones-Star im Vorfeld bekannt und brachte damit auf den Punkt, was für das Krimidrama auch im Allgemeinen gilt: Die Filmemacher stellen mehr Fragen, als Antworten zu geben. Über die Vorgeschichte des verzweifelt durch die Stadt streifenden Roman Eggers (Mišel Maticevic), der von seiner Frau Tamara Becker (Franziska Hartmann) verlassen wurde und einleitend seine Ex-Geliebte im Affekt erschlägt, erfahren wir zum Beispiel nur das Nötigste - und das, obwohl Eggers der Dreh- und Angelpunkt in diesem Tatort ist. Auch im Hinblick auf die Gefühlswelt von Brandt und ihrem Kollegen Klaus Borowski (Axel Milberg) bleiben Fragen offen - zum Beispiel, warum der sonst so besonnene Kommissar betrunken in einem Restaurant randaliert, sich so sehr mit dem Killer verbunden fühlt (was selbst Milberg nicht nachvollziehen kann) und das Tischtuch zwischen Borowski und Brandt so zerschnitten scheint wie nie zuvor.
Borowski: "Ich will Sie auch dreimal am Tag in die Förde schmeißen und ich mache es nicht. Das macht doch noch keinen Mörder aus mir."
Die 1025. Tatort-Folge ist alles andere als leichte Kost und nicht nur ästhetisch eine der ausgefallenen und anstrengenden Sorte: Die Schnitte sind hart gesetzt, die Bilder im Cinemascope-Format werden oft mit einer wackeligen Handkamera eingefangen und die Dramaturgie wirkt sehr sprunghaft. Auch erzählerisch brechen die Filmemacher mit einigen Tatort-Regeln und verzichten zum Beispiel auf das Whodunit-Prinzip: Beim nicht lange auf sich warten lassenden zweiten Mord an einem Drogendealer darf der Zuschauer Eggers erneut über die Schulter schauen - eine beklemmende und für die Krimireihe bemerkenswert brutale Szene, bei der man körperlich förmlich mitleidet. Getoppt wird sie nur durch eine über sechs (!) Minuten dauernde, raue Sequenz, in der Eggers den Geldverleiher Rolf Felthuus (Ronald Kukulies, Hundstage) aufsucht: Die Gewalt steigert sich von subtilen verbalen Anfeindungen über Aggressionen und bis zum existenziellen Kampf um Leben und Tod, der auch dank des herausragenden Spiels und der physischen Präsenz von Mišel Maticevic (Ihr werdet gerichtet) noch lange nachwirkt. Spätestens hier wird klar: Trotz des drohenden Anschlags auf die Kieler Woche - der flüchtige Eggers hat bei seinem früheren Arbeitgeber Sprengstoff mitgehen lassen - ist Borowski und das Fest des Nordens keine dieser Tatort-Folgen, bei denen es bei einem Wettlauf gegen die Zeit in letzter Sekunde einen Terrorakt zu verhindern gilt (vgl. Sturm, Der Weg ins Paradies), sondern vielmehr ein aufwühlendes und forderndes Thrillerdrama im Stile eines Dominik Graf (Aus der Tiefe der Zeit). Die Arbeit der Kripo rückt immer wieder in den Hintergrund, was angesichts der früh beantworteten Täterfrage und der rührenden Vater-Tochter-Geschichte zwischen Eggers und Töchterchen Luisa (Lilly Barshy) hinter dem Rücken der Kommissare aber kaum stört. Sieht man die Ermittler bei ihrem dreizehnten gemeinsamen Einsatz zu zweit, zanken sie ohnehin fast ununterbrochen, was stellenweise sehr aufgesetzt wirkt: Das zwischenmenschliche Tief zwischen Borowski und Brandt gipfelt kurz vor dem Abspann sogar in Handgreiflichkeiten. Kein Wunder: Die mutige Schlusspointe ist das I-Tüpfelchen auf den erzählerisch gewöhnungsbedürftigen, aber erstklassig besetzten und handwerklich überzeugenden Film, mit dem sich Sibel Kekilli trotz der genannten Schwächen würdig aus der Krimireihe und der Tatort in die Sommerpause 2017 verabschiedet.

Bewertung: 7/10

Virus

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Folge: 1026 | 27. August 2017 | Sender: ORF | Regie: Barbara Eder

So war der Tatort:

Bild: ARD Degeto/ORF/Epo Film/Hubert Mican
Hysterisch. Denn nach einer guten halben Stunde platzt im Austro-Tatort Virus die Bombe: In der beschaulichen Steiermark herrscht Ebola-Alarm! Das Seuchenkommando rückt an und das idyllische Bergdörfchen Pöllau wird binnen weniger Stunden zum Sperrbezirk. Mitten in der allgemeinen Hysterie befinden sich der Wiener Oberstleutnant Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Major Bibi Fellner (Adele Neuhauser), die vor Ort mit der Unterstützung des zuständigen Dorfpolizisten Riedl (Stefan Pohl) eigentlich nur den Mörder eines unbekannten Afrikaners (David Wurawa) finden wollen: Seine Leiche wurde im Steinbruch des einflussreichen Betreibers Thomas Reuss (Martin Niedermair) aufgefunden, Hinweise auf die Identität sind aber ebenso Mangelware wie Hinweise auf den Täter, der die geplante Sprengung des Steinbruchs offenbar ausnutzen wollte, um seine Spuren zu verwischen. Regisseurin Barbara Eder, die ihr Debüt für die Krimireihe gibt, und Drehbuchautor Rupert Henning (Schock) setzen im ersten Tatort nach der Sommerpause 2017 zunächst auf das bewährte Whodunit-Prinzip und lassen die österreichischen Ermittler Routinearbeit erledigen, die auch in den Fluchthof von Reuss' Bruder Albert (Andreas Kiendl) führt - mit der erschütternden Diagnose des Pathologen Michael Kreindl (Günter Franzmeier), der den Ebola-Erreger an der Leiche nachweist, wandelt sich der 1026. Tatort aber binnen Minuten von klassischer Sonntagskost mit politischer Botschaft zur ambitionierten Kreuzung aus Krimi, Komödie und Katastrophenthriller im Stile von Outbreak oder Contagion. Da dürfte sich nicht nur Bibi Fellner, sondern auch so mancher Stammzuschauer vorkommen wie im falschen Film.
Fellner: "Das ist irgendwie nicht ganz real, oder?"
Die vergleichsweise spektakuläre Erweiterung der etablierten Tatort-Strukturen ist zweifellos ein mutiger und nicht zwingend zum Scheitern verurteilter Ansatz - schließlich hat sich die Erfolgsreihe mit den mal mehr, mal weniger witzigen Beiträgen aus Münster und Weimar, tollen Arthouse-Krimis aus Wiesbaden (vgl. Im Schmerz geboren) oder den amerikanisch angehauchten Miniserien aus Dortmund und Berlin über die Jahre ohnehin zur Spielwiese für Filmemacher mit Spaß am Traditionsbruch entwickelt. Der permanente Wechsel des Erzähltons und die vielen albernen Einlagen, die den ernsthaften Anspruch der Geschichte kolossal untergraben, brechen dem durchaus spannend inszenierten Tatort aber letztlich das Genick. Nur ein Beispiel: Als Fellner befürchtet, mit dem titelgebenden Virus infiziert zu sein, mündet das zunächst in Todesangst und panische Blicke - schon in einer der nächsten Szenen aber witzelt sie über die umgehend eingeleiteten Isolationsmaßnahmen, obwohl die Ärzte noch keine Entwarnung gegeben haben. Ein derart wilder Stimmungsmix kann selbst im humorvoll angehauchten Tatort aus Österreich kaum funktionieren, zumal auch der Sidekick schwächelt: Assistent "Fredo" Schimpf (Thomas Stipsits), der im letzten Wiener Tatort Wehrlos erstmalig in den Mittelpunkt rückte, muss diesmal für müde Gags zur mangelnden Fitness der Polizeibeamten herhalten. Und ausgerechnet Sektionschef Ernst Rauter (Hubert Kramar) ist im Revier am schlechtesten über das Ausmaß der Katastrophe informiert. Bei Eisner und Fellner wechseln sich Licht und Schatten ab: So authentisch und verbissen sie sich bei einem schweißtreibenden (und absolut köstlichen) Trainingskampf auf der Sportmatte in die Haare kriegen, so gekünstelt und konstruiert wirkt das hektische Vorbereiten eines Geburtstagsdinners, bei dem sich Fellner in Slapstick-Manier in den Finger schneidet. Dafür punkten zwei andere Figuren: Pathologe Kreindl muss sich in Sachen Arroganz ("Wirf' dich in den Staub vor meiner forensischen Kompetenz!") noch nicht mal vor dem populären Münsteraner Kollegen Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) verstecken und der herrlich überzeichnete Einsatzleiter Dr. Klaus Rottensteiner (Markus Schleinzer, Tödliche Habgier) besticht mit seiner herrisch-hysterischen Art. Auch der stark gespielte Showdown in den Bergen der Steiermark, den die Filmemacher stimmungsvoll mit der bedrückenden Vorgeschichte in Afrika verknüpfen, kann sich sehen lassen - und die Auflösung in Virus liefert das außergewöhnlichste Tatmotiv der jüngeren Tatort-Geschichte.

Bewertung: 5/10

Stau

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Folge: 1027 | 10. September 2017 | Sender: SWR | Regie: Dietrich Brüggemann

So war der Tatort:

Bild: SWR/Alexander Kluge
Nachgebaut. Denn wenngleich Stau zu großen Teilen auf der Stuttgarter Weinsteige im Herzen der deutschen Stau-Stadt Nr. 1 spielt, drehte Regisseur Dietrich Brüggemann sein Tatort-Debüt vor allem im Breisgau: In einer Messehalle in Freiburg wurde die berühmte Rechtskurve, die einen fantastischen Blick über die Stadt gewährt, mit rund 100 Metern Mauer und rund 80 Metern Bluescreen nachgebaut. Wie der Dreh ablief, verriet Hauptdarsteller Richy Müller uns im Interview, und das Ergebnis kann sich sehen lassen: Kleine Unterschiede zum Originalschauplatz werden ortskundigen Zuschauern zwar auffallen und auch die etwas sterile Atmosphäre im Feierabendverkehr lässt sich nicht leugnen, doch unter dem Strich haben die Techniker und Szenenbildner einen erstklassigen Job abgeliefert - so wie auch Brüggemann, der bei der Vorpremiere auf dem SWR Sommerfestival großen Applaus für seinen ersten Tatort erntete. Zu Recht: Der 20. Einsatz der Hauptkommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare), die bei den Ermittlungen von Assistentin Nika Banovic (Mimi Fiedler) und Gerichtsmediziner Dr. Vogt (Jürgen Hartmann) unterstützt werden, ist einer ihrer besten und originellsten. Brüggemann, der das Drehbuch gemeinsam mit Daniel Bickermann schrieb, spickt die Geschichte mit großartigem Dialogwitz und lässt den gesuchten Täter direkt in den Stau fahren: Bei einem Unfall im Haigst kommt einleitend eine Jugendliche zu Tode und der einzige Fluchtweg des Täters führt direkt auf die wegen eines Wasserrohrbruchs gesperrte Weinsteige. Dort steht das halbe Dutzend Verdächtiger in seinen Autos - so wie das zur Paartherapie verabredete und köstlich zerstrittene Ehepaar Marie-Luise (Julia Heinemann) und Gerold Breidenbach (Eckhard Greiner), das sich pausenlos in die Wolle kriegt und für Lacher am Fließband sorgt.
Breidenbach: "Lieber keine Kinder, als Kinder, die vom eigenen Vater totgefahren werden."
Brüggemann bringt die typischen Tatort-Momente elegant in seinem Mikrokosmos Stau unter: Dem Leichenfund folgen eine improvisierte Obduktion, die Auswertung der Spuren und die Verhöre direkt an Ort und Stelle. In Sachen Unterhaltungswert ist jeder der Verdächtigen ein Volltreffer: Um die Figuren schon vor Lannerts Eintreffen an der Wagenschlange in aller Knappheit einzuführen und so die Basis für seine knifflige Whodunit-Konstruktion zu schaffen, inszeniert Brüggemann eine urkomische Exposition, die jede von ihnen in einer Alltagsszene zeigt und bei zur Gemütslage (un-)passenden Musik in den Stau befördert. Der Filmemacher bringt binnen Minuten alles für den weiteren Verlauf Wichtige auf die Mattscheibe und hält den Verdächtigen den Spiegel vor, ohne zu tief in die Klischeekiste zu greifen: Neben den Breidenbachs gibt es da Bruddler Günther Lommel (Rüdiger Vogler, Grabenkämpfe), den von seinem Chef ausgenutzten Matthias Treml (Daniel Nocke, schrieb bereits drei Tatort-Drehbücher), die arrogante Geschäftsfrau Ceyda Altunordu (Sanam Afrashteh) und ihren bedauernswerten Chauffeur Bernd Hermann (Jacob Matschenz, Alle meine Jungs), den kiffenden Pflegedienstfahrer Kerem (Deniz Ekinci), den untreuen Anwalt Moritz Plettner (Roland Bonjour) und die gestresste Mutter Tina Klingelhöfer (Susanne Wuest, Zwischen den Fronten), deren anstrengende Tochter Miris (Anastasia Clara Zander) am liebsten den ganzen Tag den Peter-Licht-Song Wettentspannen hören würde. Sie alle könnten die Fahrerflucht begangen haben und dürfen Lannert zum Verhör in ihrem Auto begrüßen, während Bootz sich am Unfallort umhört - mit dem urschwäbischen Hausdrachen Frau Ott (Sabine Hahn), der im Befehlston die halbe Nachbarschaft zur Schnecke macht, trifft er dort bei der Suche nach der Auflösung auch den heimlichen Publikumsliebling. Der 1027. Tatort gerät unter dem Strich zwar sehr dialoglastig, doch werden die kleinen Längen durch fantastische Dialoge, amüsante One-Liner ("Fünf Wochen unfallfrei? Kompliment.") und sympathisch-überzeichnete Charaktere mehr als wettgemacht. Zugleich ist der 20. Fall von Lannert und Bootz mit soviel Lokalkolorit durchsetzt, wie man es seit dem Abdanken ihres Vorgängers "Ärnschd" Bienzle (Dietz-Werner Steck) kaum mehr erlebt hat. Damit liefert Dietrich Brüggemann bei seinem Tatort-Debüt in tollen Cinemascope-Bildern trotz des fast immerselben Schauplatzes (fast) alles, was einen guten Sonntagskrimi ausmacht.

Bewertung: 8/10

Zwei Leben

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Folge: 1028 | 17. September 2017 | Sender: SRF | Regie: Walter Weber

So war der Tatort:

Bild: ARD Degeto/SRF/Daniel Winkler
Frisch verliebt. Denn die Luzerner Hauptkommissare Reto Flückiger (Stefan Gubser) und Liz Ritschard (Delia Mayer) sind in Zwei Leben gleich beide mit ihrer neuen Flamme zu sehen: Während Flückiger mit Eveline Gasser (Brigitte Beyeler), die der Zuschauer bereits im direkten Vorgänger Kriegssplitter bei einer gemeinsamen Nacht im Hotel zu Gesicht bekam, auf den ersten Jahrestag anstößt, hat die erste lesbische Ermittlerin der Tatort-Geschichte mit der Mitarbeiterin eines Asia-Imbisses angebandelt, die bei einer Stippvisite im Präsidium aber gerade mal zwei Wörter sagen darf und nach wenigen Sekunden wieder verschwindet. Bei der Charakterzeichnung stellt sich der SRF also weiterhin recht ungeschickt an, und auch die Drehbuchautoren Felix Benesch (Hanglage mit Aussicht) und Newcomer Mats Frey verfallen - von stärkeren Fällen wie Ihr werdet gerichtetoder Kriegssplitter mal abgesehen - schnell in die erfolglosen Muster ihrer Vorgänger: Zwischen den Kommissaren springt der Funke bei den hölzernen Dialogen ebenso wenig über wie im Gespräch mit Gerichtsmedizinerin Corinna Haas (Fabienne Hadorn), und Regierungsrat Eugen Mattmann (Jean-Pierre Cornu) hat sich genau zu der Nervensäge zurückentwickelt, die er schon 2011 in Wunschdenken oder 2014 in Zwischen zwei Welten war. Bevor Zwei Leben in die gewohnte Schweizer Behäbigkeit verfällt, geht es aber recht schwungvoll los: Busfahrer Beni Gisler (Michael Neuenschwander) muss einleitend machtlos mitansehen, wie ein Mann von einer Brücke direkt in seine Windschutzscheibe springt und auf der Straße verstirbt. Mord oder Selbstmord? Als früherer Zugführer musste Gisler schon mehrere Vorfälle dieser Art miterleben und zeigt sich entsprechend traumatisiert.
Flückiger: "Der wievielte Suizid war das in diesem Jahr?"
Haas: "Ich habe aufgehört zu zählen."
Man muss kein großer Prophet sein, um früh vorauszusehen, dass dieser lieblos in den Raum gestellte Dialog nicht die ganze Wahrheit ist: Im 1028. Tatort liegen die Karten ähnlich wie in der Berliner Lachnummer Dinge, die noch zu tun sind, in dem eine unheilbar an Krebs erkrankte Mutter zwei Dealer tötete, die ihre Tochter auf dem Gewissen hatten - und in der der Zuschauer miträtseln sollte, wer die beiden wohl ermordet haben könnte. Auch in Zwei Leben verrät der Krimititel zu viel: Wenn Schlüsselfigur und Ex-Baulöwe Jakob Conti (Markus Graf), den eine verdächtige Ähnlichkeit mit dem unbekannten Brückenspringer verbindet, angeblich 2004 im Thailand-Urlaub gestorben ist, seine Leiche aber nie gefunden wurde - war er dann womöglich gar nicht tot? Was der Zuschauer auch dank einiger bedeutungsschwangerer Blicke seines Sohnes Marco (Roland Bonjour, Stau) und seiner Frau Anita (Saskia Vester, Wer zweimal stirbt) mühelos beantworten kann, beschäftigt die Ermittler hier eine geschlagene halbe Stunde. Selbst nach dem Auftritt der dementen Gianna Conti (Tessie Tellmann, Das Recht, sich zu sorgen), die ihren angeblich toten Bruder gesehen haben will, dreht sich die Geschichte einfach weiter im Kreis. Über Flückigers gemeinsame Vorgeschichte mit dem traumatisierten Gisler erfahren wir hingegen so gut wie nichts: Dass sich der Kommissar so für den labilen Busfahrer einsetzt, wirkt von Beginn an behauptet und bringt kaum Brisanz in die von Regisseur Walter Weber (Russisches Roulette) behäbig inszenierten Ermittlungen, die auch in die Wohnung von Psychologin Dr. Sonja Roth (Stephanie Japp,Ohnmacht) führen. Über die mit dem Holzhammer konstruierte Handlung könnte man großzügig hinwegsehen, böte Zwei Leben eine knifflige Auflösung, ein spannendes Finale oder interessante Figuren - die Beantwortung der Täterfrage ist für Genrekenner dank unübersehbarer Indizien aber mühelos zu erahnen, während die Kurzauftritte des von Roger Bonjour gespielten IT-Assistenten Röbi ("Soll ich das schon mal einscannen? Dann können wir die Daten besser handlen.") ebenso in die unfreiwillige Komik abdriften wie die Wutausbrüche des traumatisierten Gisler. Und dann ist da noch die indiskutable Synchronisation der schwyzerdütschen Originalfassung, bei der die Lippen der Schauspieler und die Tonspur zwei verschiedene Geschichten zu erzählen scheinen - an die hat man sich im Schweizer Tatort aber mittlerweile fast schon gewöhnt. Findet man überhaupt etwas Positives in diesem Krimi, sind es die guten Leistungen der stark geforderten Nebendarsteller, die gegenüber der mit haarsträubenden Zufällen gespickten Handlung aber auf verlorenem Posten stehen.

Bewertung: 3/10

Goldbach

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Folge: 1029 | 1. Oktober 2017 | Sender: SWR | Regie: Robert Thalheim

So war der Tatort:

Bild: SWR/Alexander Kluge
Kurzfristig umbesetzt. Denn eigentlich hatte der SWR für den ersten Schwarzwald-Tatort einen echten PR-Coup gelandet: Late-Night-Talker Harald Schmidt sagte dem Sender im Dezember 2015 für den Nachfolger des Tatort aus Konstanz zu. Doch aus der geplanten Rolle als Kriminaloberrat Gernot Schöllhammer wurde nichts, denn zwei Wochen vor dem Drehstart zu Goldbach folgte aus heiterem Himmel die Rolle rückwärts: Schmidt sagte im März 2017"aus persönlichen Gründen" ab und eröffnete Spekulationen über zu hohe Gagenforderungen und gesundheitliche Probleme. Die aus der Not geborene Last-Minute-Neubesetzung ging fast unter: Steffi Kühnert (Zirkuskind) sprang ein und ist als Kripochefin Cornelia Harms nun dauerhaft an der Seite der Freiburger Hauptkommissare Franziska Tobler (Eva Löbau, Der glückliche Tod) und Friedemann Berg (Hans-Jochen Wagner, Auf ewig Dein) zu sehen. Man kann sich ausmalen, wieviele Hebel der SWR kurzfristig für den Einbau einer komplett neuen Figur in Bewegung setzten musste - doch Regisseur Robert Thalheim und Drehbuchautor Bernd Lange (Neuland) gelingt es, Harms genauso gut in die Geschichte integrieren wie die Kommissare. Die werden zwar (noch) nicht mit nennenswertem Privatleben ausgestattet, bekommen dafür aber eine stimmige Kreuzung aus klassischem Whodunit und einem Vermisstenfall serviert: Nahe des kleinen Schwarzwald-Örtchens Goldbach wird die Leiche der elfjährigen Frieda (Alexa Luna Tröndle) gefunden - und während ihr Freund Paul (Aaron Kissiov), der mit ihr im Wald gespielt hatte, wohlbehalten zurückkehrt und nichts bemerkt haben will, bleibt sein bester Kumpel Linus (Oskar von Schönfels) verschwunden. Da die Ermittler am Tatort ein verstecktes Waffenarsenal finden, führt die Spur nicht nur in die Idylle des Dörfchens, sondern auch ins Darknet, das sich 2017 weiterhin großer Beliebtheit in der Krimireihe erfreut (vgl. Fangschuss, Borowski und das dunkle Netz).
Berg: "Die bestellen sich Kompakt-MGs wie Druckerpatronen."
Goldbach ist ein stark gespieltes und überzeugend arrangiertes Krimidrama, denn der Zuschauer darf gleichzeitig über das Schicksal von Linus rätseln und für sich die Frage beantworten, was sich im Wald wohl zugetragen hat: Welches Geheimnis trägt Paul mit sich herum und welche Rolle spielt Waffenhersteller Stefan Pfeiffer (Christian Heller, Der Inder), der Verbindungen in die Politik hält? Zumindest eine, die wir zum Beispiel im Tatort aus Luzern oder im Tatort aus Wien schon oft gesehen haben: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Kripochefin Harms in die Ermittlungen grätscht, weil Landesregierung und Wirtschaft ja verärgert werden könnten. Dieser Ausflug in Richtung Politthriller bringt den Krimi aber kaum voran: Besser wären die Sendeminuten in eine etwas schärfere Skizzierung der zunehmend zerstrittenen Nachbarn und Eltern der drei in die Tat involvierten Kinder investiert gewesen, die sich gegenseitig für die Tragödie verantwortlich machen. Während für Friedas Eltern Jens (Godehard Giese, Kalter Engel) und Barbara Reutter (Victoria Mayer, Satisfaktion) eine Welt zusammenbricht, versuchen Klaus (Felix Schmidt-Knopp, Zahltag) und Steffi Buchwald (Isabella Bartdorff) ihren schweigsamen Sohn Paul auszuquetschen. Martin Benzinger (Shenja Lacher, Im Schmerz geboren) und seine Frau Nicole (Odine Johne, Stau) hingegen wissen nicht mal, ob ihr vermisster Linus je zurückkehrt. Bei der Freilegung der zwischenmenschlichen Spannungen hat der 1029. Tatort seine stärksten Momente, aber der Film überzeugt auch ästhetisch: Schon die erste Einstellung - ein langes Panorama der verschneiten Bäume, durch die der tödliche Schuss hallt - macht deutlich, dass im neuen SWR-Tatort der Schwarzwald der Star ist. Der Fokus auf dessen Natur zieht sich ebenso wie ein roter Faden durch den Tatort wie der tolle düstere Klangteppich, während Verfolgungsjagden über Stock und Stein und die Indiziensuche im Unterholz in der Krimireihe eine willkommene Abwechslung bieten (ähnlich provinziell geht es meist nur im Tatort aus Österreich oder im Tatort aus Niedersachsen zu). Hier offenbart sich auch die Nähe zu Skandinavien-Krimis, mit denen das Debüt von Tobler und Berg in Sachen Spannung und Gruselfaktor aber nicht ganz mithalten kann: Vor allem im Mittelteil schleichen sich einige Längen in die Handlung ein. Dennoch ist Goldbach eine gelungene und atmosphärisch unheimlich dichte Premiere - wenn auch mit einer vorhersehbaren Auflösung.

Bewertung: 7/10

Hardcore

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Folge: 1030 | 8. Oktober 2017 | Sender: BR | Regie: Philip Koch

So war der Tatort:

Bild: BR/Hagen Keller
Pornös. Denn Regisseur Philip Koch, der nach dem Meilenstein Der Tod ist unser ganzes Leben zum zweiten Mal für einen Tatort aus München am Ruder sitzt und das Drehbuch zu Hardcore gemeinsam mit Bartosz Grudziecki schrieb, entführt seine Zuschauer in eine Welt, die nur den wenigsten bekannt sein dürfte: in die Welt der deutschen Pornoindustrie. Deren Herz schlug schon in den 70er Jahren - man denke an Sexfilmchen wie Liebesgrüße aus der Lederhos'n - in München und hat sich durch das Internet extrem gewandelt: Wer vor Jahren dank geringer Produktionskosten und hoher Nachfrage noch den großen Reibach gemacht hat, kann sich heute kaum noch über Wasser halten. Diese Erfahrung müssen in dieser Tatort-Folge auch der von Markus Hering (Am Ende geht man nackt) gespielte Produzent Sam Jordan ("Ich bin der Cumshot-König!") und sein von Frederic Linkemann gespielter Rivale Olli Hauer ("Nee, sorry, ich mach keine MILFs!") machen, die in beruflicher Beziehung zum Opfer standen: In den leeren Studioräumen über einem Kaufhaus finden die Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) die erdrosselte Marie Wagner (Helen Barke) - und neben ihr ein Planschbecken mit einer übel riechenden Brühe aus Körperflüssigkeiten wie Sperma und Urin. Unter dem Künstlernamen Luna Pink war Wagner ein Star der Amateurporno-Szene - und weil bei ihrem letzten Bukkake-Dreh zwei Dutzend Männer in ihrem Mund abgespritzt haben, reduziert sich der Kreis der männlichen Verdächtigen zunächst auf eben jene. Ganz zum Leidwesen der mit der Sichtung des Drehmaterials beauftragten Assistenten Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer) und Ritschy Semmler (Stefan Betz) trugen sie aber allesamt Masken - was die Auflösung der Täterfrage erheblich erschwert.
Leitmayr: "Wir suchen jetzt einen Mann mit zwei Armen, zwei Beinen und einem eher... joa... unterdurchschnittlich großen... Glied."
Batic: "Das trifft auf halb München zu."
Wer Berührungsängste mit den Themen Sex und Pornografie mitbringt, dürfte schnell die Lust an diesem tabulosen Krimi verlieren, doch alle anderen Zuschauer dürften auf ihre Kosten kommen: Vor allem der trockene und meist nicht jugendfreie Dialogwitz macht den hohen Unterhaltungswert der 1030. Tatort-Folge aus. Die Ermittlungen konzentrieren sich auf die Protagonisten vor und hinter der Kamera, was zu köstlicher Situationskomik führt: Bei einem Besuch am Set beispielsweise diskutiert Leitmayr wie selbstverständlich mit zwei Darstellern über geldwerte Steuervorteile, während die beiden am Catering ihre Erektion am Leben erhalten und eine intimrasierte Creampie-Expertin den verdutzten Batic über lukrative Porno-Praktiken aufklärt. In einem Tatort aus Köln oder einem Tatort aus Luzern wären Szenen wie diese wohl ziemlich verkrampft ausgefallen, doch an der Isar wirkt alles wunderbar natürlich: Nie gerät das Geschehen zu albern, und auch die Moralkeule und der Erklärbär bleiben in der Regel außen vor. Wer mit Begriffen wie Cumshot und Abkürzungen wie ATM oder DP nichts anfangen kann, wird nicht alle Dialoge verstehen - ist damit aber nicht allein, weil auch die Kommissare trotz ihres soliden Grundwissens nicht jeden Terminus kennen. Explizites Material sendet die ARD selbstredend nicht: Obwohl blanke Brüste und schlaffe Penisse durchs Bild wippen und die Pornografie omnipräsent ist, wird das titelgebende Hardcore-Material nie im Detail eingefangen. Stattdessen gerät schon der Auftakt zur kunstvollen Ouvertüre: Zu den Klängen von Henry Purcells What Power Art Thou stolziert die mit einem Bikini bekleidete Wagner in Zeitlupe gen Planschbecken, um plötzlich vor dem Zuschauer in die Knie zu gehen und ihm direkt in die Augen zu blicken. Dieses gekonnte Spiel mit dem Voyeurismus des Zuschauers bleibt nicht die einzige visuelle Fingerübung, doch im Hinblick auf die Figuren offenbart der Krimi Schwächen: Dass die Ermordete die Tochter des Oberstaatsanwalt Rudolf Kysela (Götz Schulte) ist, sorgt kaum für zusätzliche Brisanz - ein anderer in der Öffentlichkeit stehender Bürger hätte für die Geschichte kaum schlechter funktioniert. Bei der Charakterzeichnung zu kurz kommen Schlüsselfigur und Ex-Pornodarstellerin Stella Harms (Luise Heyer, Taxi nach Leipzig) und vor allem ihr Mann Markus (Golo Euler, Im Schmerz geboren), während im Hinblick auf die Porno-Produzenten fleißig Klischees bedient werden. Das Ganze wird aber mit entwaffnendem Humor und tollen One-Linern aufgefangen - und so ist Hardcore nicht nur ein freizügiger, sondern auch ein amüsanter und origineller Krimi, der bei erzkonservativen Zuschauern garantiert für Empörung sorgen wird.

Bewertung: 7/10


Der rote Schatten

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Folge: 1031 | 15. Oktober 2017 | Sender: SWR | Regie: Dominik Graf

So war der Tatort:

Bild: SWR/Sabine Hackenberg
Verschwörungstheoretisch. Denn Regisseur Dominik Graf (Frau Bu lacht) schlägt in seinem vierten Tatort den Bogen zum vierzig Jahre zurückliegenden Deutschen Herbst: In der Nacht zum 18. Oktober 1977 nahmen sich die RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in der JVA in Stuttgart-Stammheim das Leben, ihre Mitstreiterin Irmgard Möllerüberlebte schwer verletzt. Wenige Stunden zuvor hatte das GSG-9-Kommando die entführte Lufthansa-Maschine "Landshut" befreit - die RAF antwortete mit der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer. Zur Todesnacht in Stammheim hat Graf seine ganz eigene Theorie parat, die in krassem Widerspruch zur offiziellen Version steht: War es womöglich kein Selbstmord, sondern gezielt vertuschter Mord? Die Denkanstöße des zehnfachen Grimme-Preisträgers, der das Drehbuch zu Der rote Schatten gemeinsam mit Raul Grothe schrieb, dürften für kontroverse Diskussionen sorgen, denn die damaligen Schlampereien werden in seinem sperrigen Politthriller schonungslos aufgearbeitet. Dank der authentischen Inszenierung verwischen dabei oft die Grenzen zwischen Realität und Fiktion: Dokumentarisches Material wie den Hilferuf des entführten Schleyer oder die Verhaftung von Baader & Co. kombiniert Graf mit nachgedrehten 70er-Jahre-Szenen und streut diese regelmäßig in das Geschehen im Hier und Jetzt ein. Den Generationsunterschied spiegelt der Filmemacher in den Stuttgarter Hauptkommissaren: Während Thorsten Lannert (Richy Müller) die Ideologie der RAF in ihren Grundzügen geteilt und Gudrun Ensslin sogar in einer WG kennengelernt hat (wie uns Richy Müller bereits vorab im Interview verriet), kennt Sebastian Bootz (Felix Klare) den "Krieg der Kinder gegen ihre Väter" nur aus den Medien und wird so für das jüngere TV-Publikum zur Identifikationsfigur.
Lannert: "Worum uns die RAF gebracht hat, war die Neugier. Und die Sehnsucht, die damals herrschte - politisch und gesellschaftlich. Die haben sie weggebombt."
Der rote Schatten ist ein mutiger und unbedingt sehenswerter, allerdings auch stark überfrachteter Tatort, denn das 90-minütige Korsett der Krimireihe engt den Film spürbar ein: Nicht von ungefähr hat Graf einen zehn Minuten längeren Director’s Cut schneiden lassen, auf den das TV-Publikum aber (zunächst) verzichten muss. Wer sich auf einen klassischen Krimi nach altbewährtem Schema gefreut hat, dürfte früh die Lust an diesem komplexen Politthriller verlieren, dabei verlangt Graf dem Zuschauer weniger ab als sonst: Anders als im umstrittenen Vorgänger Aus der Tiefe der Zeit verzichtet der Filmemacher auf inszenatorische Fingerübungen und das für ihn typische, oft anstrengend hohe Erzähltempo, das im Vergleich zum normalen Tempo im Tatort aber immer noch sehr sportlich ausfällt. Neben der Aufarbeitung der RAF-Todesnacht, die vor allem Lannert vorantreibt, will ja schließlich auch noch ein Mordfall in der Gegenwart gelöst werden: Die Kommissare finden einleitend im Kofferraum von Christoph Heider (Oliver Reinhard, Im Alleingang) die Leiche seiner Ex-Frau Marianne, die in ihrer Badewanne ums Leben gekommen ist. Hier stellt sich dieselbe Frage wie in Stammheim: Gezielter Mord oder Selbstmord? Ins Visier der Ermittler gerät neben Tochter Luisa (überzeugendes Debüt: Leonie Nonnenmacher) auch ihr Heiders Freund Wilhelm Jordan (glänzend: Hannes Jaenicke, Atemnot), der von ihrer Lebensversicherung profitieren würde. Über den abgehalfterten Zocker, der früher als V-Mann in höchsten RAF-Kreisen tätig war und die gesuchte Terroristin Astrid Frühwein (eiskalt: Heike Trinker, Erfroren) in seiner Gartenlaube versteckt, wird der titelgebende lange Schatten der Stammheimer Schreckensnacht mit der Gegenwart und dem realen Kampf gegen die RAF verknüpft - die hat sich zwar 1998 offiziell aufgelöst, beschäftigt Oberstaatsanwalt Lutz (Friedrich Mücke, spielte zweimal den Hauptkommissar Henry Funck im Tatort aus Erfurt) aber noch immer. Zwar ist die Täterfrage im Hinblick auf Heiders rätselhaften Tod früh beantwortet, doch bleibt sie nicht die letzte Leiche, so dass der Spannungsbogen nie in den Keller fällt und bei der etwas hektisch zusammengeschusterten Auflösung wie gewohnt mitgerätselt werden darf. Der Konflikt zwischen der Kripo, der Staatsanwaltschaft und einer ihr übergeordneten Behörde (hier: der Verfassungsschutz) wurde in der Krimireihe aber schon ein paar Mal zu häufig erzählt, als dass diese Machtspielchen noch wirklich mitreißen würden.

Bewertung: 7/10

Zurück ins Licht

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Folge: 1032 | 22. Oktober 2017 | Sender: Radio Bremen | Regie: Florian Baxmeyer

So war der Tatort:

Bild: Radio Bremen
Selbsam. Denn bei ihrem vierten Auftritt wirbelt BKA-Kollegin Linda Selb (Luise Wolfram) den Tatort aus Bremen erneut nach allen Regeln der Kunst durcheinander: Erst drückt sie dem verdutzten Gerichtsmediziner Dr. Katzmann (Matthias Brenner) einen Spontankuss auf, dann integriert sie irritierende Verkleidungs- und Schaukampfrituale in ihr Sexleben mit dem angemessen überraschten Hauptkommissar Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) - und am Morgen danach gesteht sie ihm neben dem One-Night-Stand mit einer Frau auch den Wunsch nach einem gemeinsamen Kind. Klingt ziemlich verrückt, und das ist es in der Tat: Zurück ins Licht ist der beste Beweis dafür, wie nah Licht und Schatten im Fadenkreuzkrimi aus dem kleinsten deutschen Bundesland seit Jahren beieinander liegen. Herausragenden Thrillern wie Brüder oder sensiblen Familiendramen wie Die Wiederkehr standen unfreiwillig komische Psychokisten wie Ordnung im Lot oder Er wird töten gegenüber - und leider fällt der 16. Tatort von Regisseur Florian Baxmeyer, der zuletzt die tolle Folge Nachtsicht inszenierte, eindeutig in die zweite Kategorie. Wie schon in Er wird tötensteht eine psychisch labile Frau im Mittelpunkt: Die Pharmareferentin Maria Voss (Nadeshda Brennicke, Rendezvous mit dem Tod) hat sich nach einem Autounfall Zurück ins Licht gekämpft - steht nun aber unter Mordverdacht, weil sie in Kontakt zum ermordeten Pharmahändler Ole Bergener stand, dessen Leiche Hauptkommissarin Inga Lürsen (Sabine Postel) und ihre Kollegen aus der Weser ziehen. Voss klingt von Beginn an wie auf Drogen und gibt regelmäßig schräge Esoterik-Selbstgespräche zum Besten, die einer verwirrten Psychopathin deutlich besser zu Gesicht gestanden hätten als der toughen Karrierefrau, die sie zu sein vorgibt. Und auch sie hat ein Auge auf Stedefreund geworfen.
Voss: "Willst du mit mir schlafen? Ist jetzt ganz ungünstig, ich hab morgen um 11 einen wichtigen Termin."
Vielleicht gaben Sabine Postel und Oliver Mommsen ihren Ausstieg aus der Krimireihe nicht von ungefähr nach den Dreharbeiten zu Zurück ins Licht bekannt: Der 1032. Tatort wartet zwar mit mutigen Dialogen auf, zählt aber zu den schwächsten und kuriosesten Krimis, die je an der Weser entstanden. Man muss schon kürbisgroße Tomaten auf den Augen haben, um nicht zu bemerken, dass mit Voss etwas nicht stimmt - der Twist nach einer guten Stunde dürfte allenfalls die Kommissare überraschen und auch ihr Verhältnis zum Pharmahändler Carl Bellheim (Jörg Pose, Fünf Minuten Himmel) erklärt sich nach einem spontanen Handjob von selbst. Sorgte der in der Pornoszene spielende Münchner Tatort Hardcore zwei Wochen zuvor für laute Proteste, geht es mit der Freizügigkeit in Bremen munter weiter: "Zum Schluss war es lustig, wenn Porno-Mommsen nur im Bademantel und mit Adiletten zum Set kam", ließ der nackt zu sehende Hauptdarsteller in einem Interview verlauten, und auch die Witwe Judith Bergener (Victoria Fleer) und Voss' Ex-Mann Peter Kappeler (Nicki von Tempelhoff, Schattenlos) fallen ohne Umschweife übereinander her. Der Fall rückt oft in den Hintergrund, doch den schablonenhaften Figuren fehlt es auch am Unterbau: Warum zum Beispiel Kappeler plötzlich wieder von seiner Ex-Frau fasziniert ist und seine deutliche aufgewecktere Tochter Lotte (Emma Drogunova, Wir - Ihr - Sie) sogar zum Mittagessen mit ihr nötigt, bleibt vollkommen nebulös. Während Stedefreund und Selb mit sich selbst beschäftigt sind, bildet Lürsen den Ruhepol in diesem überambitionierten Psychothriller, bleibt aber die einzige Hauptfigur, deren Handeln uneingeschränkt nachvollziehbar ist. Auch handwerklich birgt Zurück ins Licht, in dem die Drehbuchautoren Christian Jeltsch (Der hundertste Affe) und Olaf Kraemer ihre Ich-kämpfe-mich-zurück-ins-Leben-Geschichte mit einem halbgar ausgearbeiteten und alles andere als glaubwürdigen Pharmabetrug kombinieren, erhebliche Schwächen: Bis zum Schluss sucht man den einheitlichen Erzählton vergeblich, denn seltsame Dialoge und ironisch angehauchte Provokationen wechseln sich pausenlos mit nachdenklichen Sequenzen ab. Auch die Inszenierung wirkt künstlich und wird bisweilen vom Soundtrack konterkariert: Ein wummernder Beat erzeugt bei Tatort-Besichtigungen noch lange keine Dynamik - und die plötzlich aufjaulenden Chöre, die kurz nach der Auflösung noch schnell Dramatik in den Film singen sollen, hätten auch die Schlacht um Mittelerde im Fantasy-Epos Der Herr der Ringe angemessen vertont. So tragisch ist der Abschied von Linda Selb, die hier wohl zum letzten Mal im Bremer Tatort zu sehen ist, dann allerdings doch nicht.
Stedefreund: "Linda, wer bist du? Wer bist du wirklich?"
Selb: "Ich bin viele."
Stedefreund: "Sind vielleicht 'n bisschen viele für mich."
Selb: "Leb wohl."
Bewertung: 2/10

Fürchte dich

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Folge: 1033 | 29. Oktober 2017 | Sender: HR | Regie: Andy Fetscher

So war der Tatort:

Bild: HR/Benjamin Dernbecher
Schaurig schlecht. Was nicht allein daran liegt, dass der sechste Einsatz der Frankfurter Hauptkommissare Anna Janneke (Margarita Broich) und Paul Brix (Wolfram Koch) alles andere als ein gewöhnlicher Tatort ist: Fürchte dich ist ein waschechter Horrorfilm, der in der Krimireihe seinesgleichen sucht und erneut den Beweis dafür liefert, wie sehr der Hessische Rundfunk immer wieder darum bemüht ist, deren Grenzen mit seinen Beiträgen auszuloten. Doch während diese Rechnung beim überragenden Meilenstein Im Schmerz geboren oder der selbstironischen Film-im-Film-Konstruktion Wer bin ich? wunderbar aufging, scheitert sie diesmal kolossal! Für einen schockierenden Horrorfilm ist Fürchte dich zu trashig und vorhersehbar - für eine Parodie hingegen nimmt Regisseur Andy Fetscher, der gemeinsam mit Christian Mackrodt auch das Drehbuch zum Film schrieb, die übernatürliche Geschichte viel zu ernst. Der Auftakt ist noch am ehesten gelungen: Der aus dem Seniorenheim ausgebüxte Otto Schlien (Axel Werner, Kassensturz) will das Haus von Brix und seiner Vermieterin Fanny (Zazie de Paris) in Brand stecken - wird aber in letzter Sekunde von einem Wesen aus der Dunkelheit von hinten gepackt und an der Tat gehindert. Später sind es knarrende Schaukelstühle, mysteriöse Geräusche auf dem Dachboden oder eine schreckliche Begegnung im Wasserdampf, die den Zuschauer das Fürchten lehren - wem die gewöhnliche Suspense-Dosis in öffentlich-rechtlichen Sonntagskrimis schon genug Nervenkitzel ist, braucht hier Nerven wie Drahtseile. Als der Geist, der sich in Brix' Wohnhaus eingenistet hat, aber irgendwann von Fannys Körper Besitz ergreift, verabschiedet sich der Film mit Volldampf in die unfreiwillige Komik: Während Janneke, Brix und Schliens Enkeltochter Merle (Luise Befort) in der Realität geerdet sind und der Geschichte durch ihre Nachforschungen den Anspruch auf Ernsthaftigkeit verleihen, stiefelt Fanny geistesabwesend - oder vielmehr: geistesanwesend - durch den dunklen Keller, pinselt kryptische Symbole an die Wände und verspeist genüsslich eine weiße Tennissocke, die ihr Janneke in den Mund gestopft hat. Das ist nicht gruselig, das ist nicht witzig - das ist einfach nur befremdlich.
Fanny: "Willst du deiner Urgroßmutter nicht ein Glas Wasser bringen?"
Merle: "Was?"
Fanny: "Mein Hals ist von dieser unsäglichen Sportsocke völlig ausgetrocknet."
Wer sich in einem Tatort mit dem ausgiebigem Wildern im Haunted House-Genre anfreunden kann, kommt eine Zeit lang durchaus auf seine Kosten - wem das alles zu gruselig oder realitätsfern ist, der wird hingegen in Rekordzeit abschalten. Für den ungewohnt schwachen Frankfurter Vorgänger Land in dieser Zeit erntete der HR bereits viel Kritik, die im Vergleich zu seinem außergewöhnlichen und gänzlich familieninkompatiblen Halloween-Beitrag allerdings nur ein laues Lüftchen sein dürfte: Mag man über den folgenreichen Verzehr eines Stücks Schwarzwälderkirschtorte zwischenzeitlich noch schmunzeln, schießen die Filmemacher im Schlussdrittel komplett über ihr Ziel hinaus und lassen den 1033. Tatort jegliche Bodenhaftung verlieren. Mit einem klassischen Tatort hat Fürchte dich kaum mehr zu tun als das parallel im ZDF laufende Herzkino, und so dürften am Ende weder die Tatort-Puristen, noch die Horror-Fans auf ihre Kosten kommen: Vor allem bei der Visualisierung einer Untoten wird das schmale Budget im Vergleich zu einer Kino-Produktion deutlich - und wenn Geister aussehen wie aus einer Geisterbahn, sind sie vielleicht auch besser dort aufgehoben. Anderswo wird mit abgegriffenen Jump Scares billige Effekthascherei betrieben oder uninspiriert bei Genre-Vorbildern abgekupfert: Eine furchterregende Frau auf dem Schrank kennen wir aus Conjuring, eine kotzende Todgeweihte aus Der Exorzist und das Vortasten im Dunkeln mit dem Blitzlicht einer Spiegelreflexkamera aus Saw. Und dann gibt es da noch zwei Figuren, die ihre Daseinsberechtigung in diesem schrägen Horror-Krimi komplett schuldig bleiben: Darf der neue Vorgesetzte Fosco Cariddi (Bruno Cathomas), der bei seinem irritierenden Debüt in Land in dieser Zeit beim Publikum sang- und klanglos durchfiel, gerade einmal sieben Sätze sagen, beschränkt sich Merles auffällig tätowierter Vater Lutz Schlien (Marko Dyrlich, Der sanfte Tod) auf animalische Laute und wahnhafte Zerstörungswut. Sein rätselhafter Auftritt ist das unrühmliche i-Tüpfelchen auf ein vielversprechend beginnendes, am Ende aber grandios gescheitertes Tatort-Experiment - von denen es zukünftig nur noch zwei im Jahr geben soll, wie die ARD kurz vor der TV-Premiere des Films bekannt gab. Zufall?

Bewertung: 2/10

Der Fall Holdt

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Folge: 1034 | 5. November 2017 | Sender: NDR | Regie: Anne Zohra Berrached

So war der Tatort:

Bild: NDR/Marion von der Mehden
Angelehnt an den realen Heidenheimer Kriminalfall Maria Bögerl - und mit aller Konsequenz zum bitteren Ende geführt. Auch in der Nähe von Walsrode, auf halber Strecke zwischen Hannover und Hamburg also, gibt es in diesem Tatort einen undurchsichtigen Entführungsfall: Zwei maskierte Täter kidnappen einleitend die titelgebende Julia Holdt (Annika Martens) und fordern von ihrem Mann Frank (Aljoscha Stadelmann, Spiel auf Zeit) ein Lösegeld in Höhe von 300.000 Euro. Weil der die Summe als Filialleiter der ortsansässigen Volksbank nicht selbst aufbringen kann, kontaktiert er seine Schwiegereltern Christian (Ernst Stötzner, Allmächtig) und Gudrun Rebenow (Hedi Kriegeskotte, Der irre Iwan), die gegen seinen Willen die Polizei einschalten - und so muss LKA-Kommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) auf ausdrücklichen Wunsch ihres Chefs in die niedersächsische Provinz ausrücken, um mit der vor Ort zuständigen Kollegin Frauke Schäfer (Susanne Bormann, Schön ist anders) die Ermittlungen zu leiten. Regisseurin Anne Zohra Berrached setzt bei ihrem Debüt für die Krimireihe auf geballte Frauenpower - was nicht nur ihre Hauptdarstellerin freuen dürfte, die sich ein paar Monate vor der TV-Premiere des Films in einem Spiegel-Interviewüber den ungerechten Umgang mit Frauen im deutschen Fernsehen beklagte. Schäfer entspricht erfreulicherweise auch nicht dem im Niedersachsen-Tatort häufig vorherrschenden Klischee vom überforderten Landei, das von der scharfsinnigeren LKA-Kommissarin auf links gebügelt wird - vielmehr gibt sie ihrer labilen Vorgesetzten, die einleitend von drei Männern beim Urinieren auf einem Parkplatz gefilmt und brutal niedergeschlagen wird, ordentlich Kontra und fällt ihr sogar in den Rücken.
Schäfer: "Ich hab' kein Problem damit, hier die zweite Geige zu spielen, ja. Aber ich werde nicht länger zusehen, wie diese Frau die Ermittlungen gegen die Wand fährt. Ich muss hier mal die Notbremse ziehen."
Der Fall Holdt ist ein gelungenes, weil stark gespieltes und toll fotografiertes Krimidrama, das nach den aufregenden letzten Wochen mit einem amüsanten Münchner Porno-Tatort (Hardcore), einem sperrigen Stuttgarter History-Krimi (Der rote Schatten), einer anstrengenden Bremer Psychokiste (Zurück ins Licht) und einem gescheiterten Frankfurter Horror-Experiment (Fürchte dich) angenehm bodenständig ausfällt. Regisseurin Berrached und Drehbuchautor Jan Braren arrangieren eine strukturell zwar etwas ungewöhnliche, aber atmosphärisch dichte und durchweg spannende Kreuzung aus klassischem Krimi und emotionalen Familiendrama, der ein etwas geringerer Fokus auf die Gefühlswelt seiner Ermittlerin allerdings gut zu Gesicht gestanden hätte: Am Ende ist die 1034. Tatort-Ausgabe zugleich eine dieser Folgen aus Niedersachsen, bei denen das Seelenleben der LKA-Kommissarin mal wieder wichtiger zu sein scheint als alles andere. Reizvoller als die Aufarbeitung des Lindholmschen Traumas, das man der sonst so toughen Polizeibeamtin angesichts ihrer jahrelangen Erfahrung an vorderster Front ohnehin kaum abkauft, wäre die konsequentere Zuspitzung der Konkurrenzsituation mit Schäfer gewesen, denn auch der regelmäßige Tadel ihres unter Druck stehenden Vorgesetzten Marc Kohlund (Stephan Grossmann, Amour fou) bringt kaum Brisanz in die Ermittlungsarbeit, weil dieser Konflikt im Tatort schon viel zu häufig erzählt wurde. Anders als der unter dringendem Tatverdacht stehende Ehemann Frank kommt außerdem der Sohn der Entführten bei der Charakterzeichnung zu kurz: Jonas Holdt (Moritz Jahn) reist mit Verspätung an und darf dann vor allem apathisch aus der Wäsche schauen und ein paar Krokodilstränen in einer Videobotschaft an die Entführer verdrücken. Überhaupt schlägt das Herz dieses emotionalen Entführungsdramas direkt im Hause Holdt: Durch das kammerspielartige (und budgetschonende) Setting aus Wohnhaus und direkter Umgebung erinnert Der Fall Holdt inhaltlich wie ästhetisch an den fünf Wochen zurückliegenden Schwarzwald-Tatort Goldbach, in dem ebenfalls fast ausschließlich im Wald und in einem direkt angrenzenden Dörfchen nach einem vermissten Kind und einem Mörder gesucht wurde. Im Hinblick auf die Auflösung ist der 25. Fall von Charlotte Lindholm aber nur mit wenigen Tatort-Folgen zu vergleichen: Nicht von ungefähr werden Erinnerungen an den rund ein Jahr zurückliegenden Münchner Ausnahmebeitrag Die Wahrheit wach, dessen Klasse Der Fall Holdt allerdings nicht ganz erreicht - was auch an seiner Vorhersehbarkeit liegt, die in erster Line aus dem sehr reduzierten Verdächtigenkreis und seiner realen Vorlage resultiert.

Bewertung: 7/10

Auge um Auge

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Folge: 1035 | 12. November 2017 | Sender: MDR | Regie: Franziska Meletzky

So war der Tatort:

Bild: MDR/Wiedemann & Berg/Gordon Muehle
Digital nachbearbeitet. Denn seinen ersten Aufreger hatte der Tatort Auge um Auge schon vor seiner TV-Premiere: Der taz war bei der Vorabsichtung des Krimis aufgefallen, dass in einer Filmsequenz drei PEGIDA-Anhänger einen lebensmüden Rollstuhlfahrer vor dem Unfalltod bewahren. Dessen Kommentar ("Ich dachte, wenn ihr jetzt das Volk seid, dann hau ich ab!") war dem Schnitt zum Opfer gefallen - und so rückten die rechten Retter in ein positiveres Licht, als es dem MDR lieb war. Der Sender ließ die Szene nachbearbeiten: Ein Aufnäher mit der Wirmer-Flagge und Sprüche wie "Verkohlt! Geschrödert! Ausgemerkelt!" wurden digital von den Shirts der Islamfeinde entfernt und die politische Note so eliminiert. Sie wäre aber bei weitem nicht die einzige Anspielung auf die "besorgten Bürger" Dresdens und die Flüchtlingskrise gewesen: Regisseurin Franziska Meletzky (Die fette Hoppe) und die Drehbuchautoren Peter Probst (Totenstille) und Ralf Husmann (Der König der Gosse) ironisieren ein im Tatort schon sehr häufig erzähltes Thema (zuletzt in Am Ende geht man nackt und Wacht am Rhein), überzeugen damit aber ebenso wenig wie mit dem enttäuschenden Kriminalfall um die zweifelhafte Zahlungsmoral des fiktiven Versicherungskonzerns ALVA. In dessen gläserner Zentrale finden Kommissariatsleiter Peter Michael Schnabel (Martin Brambach) und die Oberkommissarinnen Karin Gorniak (Karin Hanczewski) und Henni Sieland (Alwara Höfels) die Leiche des erschossenen Abteilungsleiters Heiko Gebhardt (Alexander Schubert, Allmächtig): Sein Tod ist der Anlass für die drei, sich unter den Mitarbeitern des Versicherers und unter dessen Kunden umzuhören, die aufgrund der ausbleibenden Zahlungen gar nicht gut auf die ALVA zu sprechen sind. Was nicht heißt, dass Polizisten bei dem tatverdächtigen Fabian Rossbach (Sascha Göpel, Unter uns) willkommener wären:
Rossbach: "Was ich in meiner Freizeit mache, das ist Privatsache. Das geht die Versicherung nichts an und die Bullen auch nicht! Ähem, die Polizei auch nicht!"
Schnabel: "Wenn was passiert ist, geht uns alles was an. Deswegen sind wir auch keine Bullen, sondern Schweine. Schweine stecken ihre Nase auch überall rein. Auch in den größten Mist."
Die politische Debatte wird im 1035. Tatort direkt ins Präsidium verlagert: Sieland schimpft über Schnabel, weil ihr latent ausländerfeindlicher Chef gedanklich noch im letzten Jahrtausend steckt, und Schnabel schimpft über Sieland, weil die sich auf seine Kosten für Flüchtlinge engagiert. "Ich mache mir massiv Sorgen um die Stadt und die Zustände hier", wettert der Stromberg-Verschnitt unverhohlen gegen Einwanderer - fast so, als würden sich Geflüchtete, Gutmenschen und Neonazis direkt vor seinem Bürofenster die Köpfe einschlagen. Die Kommissarinnen versuchen es statt mit Dramatisierung mit Humor: "Soweit ist es gekommen, du! Jetzt versauen die Türken den Deutschen schon ihre Alibis", witzelt Gorniak beim Abgleich einer Aussage des ebenfalls tatverdächtigen Gebhardt-Kollegen Rainer Ellgast (Arnd Klawitter, Fegefeuer) - der Sprengkraft dieses Reizthemas, das erheblich zum AfD-Erfolg bei der Bundestagswahl 2017 beigetragen hat, werden diese dünnen Witzchen aber kaum gerecht. Statt der deutlich reizvolleren, aber oberflächlich abgefrühstückten Geschichte um die Profitgier des Versicherers und dem Kampf der abgezockten Opfer mehr Tiefgang zu verleihen, verheddern sich die Filmemacher recht unbeholfen in einem ironisch angehauchten Mischmasch aus platter Schwarz-Weiß-Malerei, ermüdenden Grabenkämpfen im Präsidium und einer herbeigeredeten Beziehungskrise: Spätestens, als Sieland mit ihrem Ex-Ex-Freund Ole Herzog (Franz Hartwig) am Telefon über Couscous und Küsse philosophiert, ist der Bogen hier deutlich überspannt. Auch im Hinblick auf das Schicksal von Rollstuhlfahrer Harald Böhlert (Peter Schneider), seiner Frau Ines (Marie Leuenberger) und der radikalen Aktivistin Martina Scheuring (Henny Reents) kommt Auge um Augeüber seine guten Ansätze nicht hinaus. Spannung will selten aufkommen, denn dramaturgisch liegt einiges im Argen: Dass die Auflösung der Whodunit-Konstruktion so knifflig ausfällt, liegt in erster Linie daran, dass der Zuschauer den fix aus dem Hut gezauberten Täter erst in den Schlussminuten wirklich kennenlernt - und einem Faktencheck würden dessen Behauptungen angesichts dieser GDV-Zahlen auch kaum standhalten. Dass die Ermittlerinnen so spät auf die richtige Spur gelangen, wirkt ebenfalls konstruiert: Hätten sich Gorniak und Sieland bei ihren Besuchen im ALVA-Konzern etwas mehr Zeit für die Details genommen, statt sich im Präsidium in bemühten One-Linern und zwischenmenschlichen Bankrotterklärungen zu verlieren, wäre der Fall wohl schon nach einer halben Stunde gelöst gewesen.

Bewertung: 4/10

Gott ist auch nur ein Mensch

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Folge: 1036 | 19. November 2017 | Sender: WDR | Regie: Lars Jessen

So war der Tatort:

Bild: WDR/Wolfgang Ennenbach
Aktionskünstlerisch. Denn in Gott ist auch nur ein Mensch ermitteln Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) und seine Kollegin Nadeshda Krusenstern (Friederike Kempter) auf den Internationalen Skulpturtagen in Münster: Eine vorm Rathaus aufgestellte Clownsfigur entpuppt sich als Leiche eines ehemaligen Stadtrats, der vom Verdacht der Unzucht mit Kindern freigesprochen wurde. Hat sein Mörder Selbstjustiz geübt? Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) und seine Assistentin Silke "Alberich" Haller (Christine Urspruch) finden Hinweise auf einen Serientäter - und spätestens, als dieser ein zweites Opfer zum Kunstwerk drapiert und öffentlich zur Schau stellt, ist die Jagd auf ihn eröffnet. Neben dem selbstverliebten Aktionskünstler Zoltan "G.O.D." Rajinovic (Aleksandar Jovanovic, Alles hat seinen Preis) rücken auch seine Kollegen Jan Christowski (Christian Jankowski) und Swantje Hölzel (Raphaela Möst) ins Visier der Ermittler. Kuratorin Klara Wenger (Victoria Mayer, Goldbach), deren Mutter Nika (Gertie Honeck) gut mit Staatsanwältin Wilhelmine Klemm (Mechthild Großmann) bekannt ist, kommt die Publicity derweil nicht ungelegen, doch die Befragungen liefern wenig brauchbare Erkenntnisse. Die spielen aber einmal mehr nur eine untergeordnete Rolle: Regisseur Lars Jessen (Feierstunde) und die Drehbuchautoren Christoph Silber und Thorsten Wettcke, die zuletzt die Münster-Krimis Schwanensee und Zwischen den Ohren konzipierten, setzen voll auf das langjährige westfälische Erfolgsrezept mit dem mal mehr, mal weniger originellen Dialogwitz, einem Kriminalfall ohne Anspruch auf Realitätsnähe und den gewohnten Frotzeleien der Figuren, die bei ihrem 32. Einsatz voll in ihrem Element sind.
Boerne: "Alberich, Sie müssen mal über den Tellerrand hinausschauen. Ich mache Ihnen gern die Räuberleiter."
Tiefgang und Spannung bleiben vor allem in der ersten Filmhälfte auf der Strecke, aber die Fans von Thiel und Boerne kommen auf ihre Kosten: Der eitle Gerichtsmediziner neckt die tapfere Haller, der mürrische Kommissar moniert Klemms Nikotinsucht und auch "Vaddern" Herbert Thiel (Claus Dieter Clausnitzer) tut in Gott ist auch nur ein Mensch wieder das, was er am besten kann: Taxi fahren, Drogen konsumieren und seinen Sohn zur Weißglut treiben. Das alles hat man im Tatort aus Münster schon etwa 32 Mal gesehen, und auch die Nebenfiguren bekommen traditionell wenig Platz zur Entfaltung: Die Stars und Stichwortgeber für den nächsten Gag sind wie immer die Ermittler. Wenigstens einem Verdächtigen verleihen die Filmemacher aber Profil: Aleksandar Jovanovic gibt als überzeichneter Aktionskünstler G.O.D. ("Denken tun nur die Dummen!") Einblicke in seine exzentrische Künstlerseele und zugleich das Enfant Terrible, das den nicht minder ich-fixierten Hobbykünstler Boerne sofort fasziniert. Sicher: Ein Faible für Kunst und Künstler hätte Krusenstern oder Alberich genauso gut zu Gesicht gestanden, was mal für Abwechslung gesorgt hätte - in Münster frönt aber fast immer Boerne einer neuen Leidenschaft, die dann in irgendeinem Zusammenhang zum Mord steht (so auch im Vorgänger Fangschuss). Auch andernorts häufen sich die Zufälle: Thiel und Kuratorin Wenger, nicht gerade im selben Alter, kennen sich angeblich aus der freizügigen Zeit ihrer Eltern in einer Kommune - dass Wenger diese wieder aufleben lassen möchte, wirkt mehr als bemüht und generiert keine einzige brauchbare Pointe. Deutlich origineller ist der Kriminalfall, der runder wirkt als in manch anderer Folge aus Münster: Dass der Mörder den in familienkompatibler Hannibal-Manier drapierten Leichen Botschaften mitgibt und sich aus diesen Puzzleteilen erst kurz vor dem Showdown ein schlüssiges Gesamtbild ergibt, animiert zum Miträtseln. Wenngleich die Auflösung eingefleischten Tatort-Kennern nur ein müdes Lächeln abringen dürfte, wartet der 1036. Tatort doch noch mit einer überzeugenden Schlussviertelstunde auf, die ein Stück weit für die vielen Klischees, die ausgelutschten Erzählmuster und so manchen misslungenen Witz entschädigt. Wenn sich der verschlafene Thiel nämlich statt seines klingelnden Steinzeit-Handys, das seit 15 Jahren denselben Hans-Albers-Klingelton spielt, seine Fernbedienung ans Ohr hält und das Gespräch annehmen will, verkommt der Film vorübergehend zur Klamotte - deutlich gelungener ist da schon die an Pulp Fiction angelehnte Spielerei mit dem Inhalt eines Koffers, die diesen Schmunzelkrimi vom Reißbrett eigenwillig abrundet.
Christowski: "Und? War das jetzt Kunst? Entscheiden Sie selbst."
Bewertung: 5/10


Böser Boden

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Folge: 1037 | 26. November 2017 | Sender: NDR | Regie: Sabine Bernardi

So war der Tatort:

Bild: NDR/Christine Schroeder
Frackingkritisch. Denn in Böser Bodenüben alle Beteiligten scharfe Kritik an eben jenem umstrittenen Förderverfahren für Erdgas: Radikale Bio-Bauern und Öko-Aktivisten veranstalten konspirative Treffen in der Scheune des einflussreichen Landwirts Lars Kielsperg (Niklas Post) und seiner Frau Anne (Cristin König, Ätzend) und sind sogar ins Visier des Verfassungsschutzes geraten. Aber haben sie auch den Iraner Arash Naderi (Hadi Khanjanpour) getötet, der als Fahrer für die fiktive Frackingfirma "Norfrac" tätig war und vor seinem Tod von der aufgebrachten Dorfbevölkerung bedrängt wurde? Die Bundespolizisten Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) und Julia Grosz (Franziska Weisz), die bei ihren Nachforschungen in der niedersächsischen Provinz von der ortsansässigen Polizistin Kerstin Starke (Lenja Schultze) und dem hinzubeorderten Chemiker Henry Fohlen (Christian Hockenbrink, Mord ist die beste Medizin) unterstützt werden, ermitteln in alle Richtungen: Arashs Bruder Hamed (Sahin Eryilmaz, Der große Schmerz) und seine Frau Shirin (Sanam Afrashteh, Stau) scheinen bei den Befragungen nicht mit offenen Karten zu spielen - und ihr jüngster Sohn ist nicht der einzige Anwohner der Gegend, der irgendwie ungesund aussieht und Grosz schon bei der ersten Begegnung ohne Vorwarnung in die Hand beißt. Auffallend bleiche Gesichter mit tiefdunklen Augenringen blicken die Ermittler gleich reihenweise an, aber Verdacht schöpft zunächst nur Grosz: Der genervte Falke interessiert sich lange Zeit mehr für die Aktivitäten seines umtriebigen Sohnes Torben als für die Ursachen dieser mysteriösen Ungesundheit.
Grosz: "Sehen Sie den Leuten mal in die Augen, das sind doch halbe Zombies."
Falke: "Wenn man sein Leben lang nur Hirse frisst, dann sieht man halt so aus."
Vier Wochen nach dem kolossal gescheiterten Frankfurter Tatort-Experiment Fürchte dich weht erneut ein Hauch von Horror durch die beliebteste deutsche Krimireihe: Falkes zwischenzeitliche Stippvisite in Hamburg ist fast noch das bodenständigste an der mit Zombiefilm-Anleihen angereicherten Handlung, die beim Showdown in einem Supermarkt stärker an The Walking Dead oder Dawn of the Dead als an einen Sonntagskrimi im klassischen Sinne erinnert. Einmal mehr verwischen die Grenzen zwischen den Genres - das hat in der Vergangenheit schon gut funktioniert, sorgt hier aber eher für unfreiwillige Komik und dürfte weniger experimentierfreudige Zuschauer einmal mehr auf die Palme bringen. Schossen ihre Vorgänger in Borowski und eine Frage von reinem Geschmack gegen die Hersteller von Energydrinks, in Tote Erde gegen windige Recyclingfirmen und in Wer Wind erntet, sät Sturm gegen Windkraftbetreiber, knöpfen sich die Drehbuchautoren Marvin Kren (Die letzte Wiesn) und Georg Lippert diesmal das böse Frackingverfahren vor, das in Deutschland im Jahr 2017 in kommerzieller Form verboten ist und das in Böser Boden dank giftiger Abwässer gleich ein ganzes Dorf zu kranken Halb-Zombies macht. So gut diese politisch angehauchte, aber undifferenziert ausgearbeitete Umweltstory der Bundespolizei thematisch zu Gesicht steht, so sehr schießen die Filmemacher über ihr Ziel hinaus: Argumente für das umstrittene Verfahren bleiben im 1037. Tatort komplett außen vor und die Handlung ist dermaßen fernab der Realität, dass es mit fortlaufender Spielzeit immer schwerer fällt, diesen überambitionierten Öko-Thriller ernst zu nehmen. Daran ändert auch der uninspiriert eingeflochtene Gastauftritt der Indie-Rockband AnnenMayKantereit wenig, der ansonsten fast zu den Lichtblicken in diesem auffallend farblos fotografierten Film zählt: Die soliden Leistungen der Schauspieler, die überzeugende Regiearbeit von Tatort-Debütantin Sabine Bernardi und einige ansprechende Kamerafahrten können die Schwächen des Drehbuchs unterm Strich nicht übertünchen. Das neue Ermittlerteam, das mehr als eineinhalb Jahre auf seinen zweiten gemeinsamen Fall warten musste, holt die Kastanien jedenfalls (noch) nicht allein aus dem Feuer: Garantieren bei den fast immer überzeugenden Tatort-Folgen aus Dortmund, München oder Kiel bei einem schwächeren Skript schon die starken Figuren einen gewissen Unterhaltungswert, mangelt es vor allem Tatort-Neuling Grosz noch an Profil. Die zeigt sich nach ihrem sympathischen Debüt in Zorn Gottes zwar diesmal aktiver, wird aber auch in Böser Boden ausschließlich im Dienst gezeigt - und wirkt dabei (noch) sehr unterkühlt.

Bewertung: 4/10

Dein Name sei Harbinger

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Folge: 1038 | 10. Dezember 2017 | Sender: rbb | Regie: Florian Baxmeyer

So war der Tatort:

Bild: rbb/Gordon Muehle
Very Berlin. Denn man kann leicht den Überblick verlieren in einer Stadt, in der so viele Fäden zusammenlaufen, und in der alles ständig in Bewegung ist. Berlin liefert damit die ästhetische Vorlage für diesen Großstadtkrimi: Die Kamera springt auf Züge auf und fängt in interessanten Einstellungen die komplexe Dynamik der Akteure ein. Regisseur Florian Baxmeyer (Zurück ins Licht) setzt die Hauptstadt als düsteres, raues Pflaster in Szene, in deren klaustrophobischer Unterwelt jemand heimlich nach seiner eigenen bizarren Weltordnung lebt. Dabei schaut man Werner Lothar (stark: Christoph Bach, LU), dem eigenbrötlerischen Schlüsseldienstbetreiber vom Alexanderplatz, gerne ins irre Gesicht, überkontrolliert bis in die Schnurrbartspitzen, immer kurz vor der Explosion. Wer zieht in seiner Realität die Fäden? Prägnante Schnitte und der harte verbale Schlagabtausch zwischen den Hauptkommissaren Nina Rubin (Meret Becker) und Robert Karow (Mark Waschke), die im schnellen Wechsel miteinander spielen und, ja, auch schießen, liefern einen atmosphärisch dicht erzählten und temporeichen Psychothriller mit klassischen Krimimotiven. Die Ermittler, ein "Magnet für Horrorleichen", untersuchen diesmal die verkohlten Überreste eines Mordopfers, die stilecht in einem weißen Lieferwagen liegen. Die sterile Kinderwunschklinik des lesbischen Paares Dr. Iris Wohlleben (Almut Zilcher) und Hanneke Tietzsche (Eleonore Weisgerber, Echolot), die die Verbindung zwischen dem Toten und früheren Mordfällen zu sein scheint, bildet einen weiteren dystopischen Gegenpol in einer Welt voller Ambivalenzen. Kommissarsanwärterin Anna Feil (Carolyn Genzkow) ahnt zunächst nicht, dass sie in einem dieser Paralleluniversen eine Hauptrolle spielt. Schon bald aber dringt Lothar, der auch auf den titelgebenden Decknamen Harbinger hört, durch einen Trick in ihr Privatleben ein: Diese hochspannende Sequenz weckt sofort Assoziationen zum Kieler Tatort Borowski und der stille Gast, in dem sich Serienmörder Kai Korthals (Lars Eidinger) 2012 als Paketbote in die Wohnungen seiner Opfer schlich.
Feil: "Was meinst du mit HINTER MIR?"
Dein Name sei Harbinger hätte ein Meilenstein der Krimireihe werden können - einzig die Story, die zunächst gut aufgebaut wird, wirkt gegen Ende etwas überfrachtet. Die Geschichten durchkreuzen sich und schon bald wird klar: Die Ärztinnen haben mit unlauteren Methoden in das Leben ihrer Patientinnen eingegriffen. Leider gelingt es den Drehbuchautoren Michael Comtesse und Matthias Tuchmann (Nachtsicht) nicht ganz, die beiden Handlungsstränge reibungslos miteinander zu verbinden, vielmehr bedienen sie sich recht unkritisch Reproduktionsmythen rund um gleichgeschlechtliche Familien und deren Elternschaft. Das ist ein bisschen letztes Jahrhundert und schmälert den ansonsten hohen Unterhaltungswert: Meret Becker gibt in der 1038. Tatort-Ausgabe gekonnt die Berlin-Bitch, die die Faust in der Bomberjacke ballt und keinen Bock mehr darauf hat, dass ihr ihr Sohn Tolja (Jonas Hämmerle) und der Rest der nach Straubing gezogenen Familie auf der Nase rumtanzen. Ihre Figur bewegt sich konstant zwischen Verletzlichkeit und Härte und wirkt dabei so authentisch, als träfe man sie an der nächsten Berliner U-Bahn-Station wirklich. Auch die zunächst schüchterne Feil wird in ihrer Coming-of-Age-Geschichte von Extremsituationen geschüttelt und spielt das eiskalte Spiel am Ende mit - teilt aus, verletzt, bleibt cool und brutal (mehr zu Rubins Vorbildfunktion und Feils Gefühlswelt verriet uns Carolyn Genzkow im Interview). Mit dem Berliner Ermittlerteam hat die Hauptstadt seit Das Muli endlich würdige Repräsentanten, die den Geist der Metropole, immer eine Ecke schneller und krasser zu sein, hervorragend transportieren. Die Schauspieler zeigen sich als Symptomträger für einen hektischen, ein bisschen gruseligen, aber auch wahnsinnig faszinierenden und vielfältigen Ort, seinem Leben mit all den Falltüren und Parallelwelten darin. Dabei machen gerade die konsequent durchgezogenen Widersprüche die Charaktere aus: Während andere Tatort-Kommissare nach Feierabend über ihr Dasein jammern oder ihre Katze streicheln, qualmt Rubin wahrscheinlich irgendwo im Regen ihre Zigarette danach. Und Karow? Der Bad Ass mit dem Ego vom Alex bis zum Hermannplatz lässt sich so richtig durch den Kakao (bzw. die Salzlauge) ziehen und diesmal zu gewagten Fessel- und Psychospielchen hinreißen. Rubin findet das "Auch'n bisschen geil, oder?" Auf jeden.

Bewertung: 7/10

Dunkle Zeit

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Folge: 1039 | 17. Dezember 2017 | Sender: NDR | Regie: Niki Stein

So war der Tatort:

Bild: NDR/Christine Schroeder
Relevant. Denn Regisseur und Drehbuchautor Niki Stein (Frauenmorde) wagt sich in Dunkle Zeit an ein politisch heißes Eisen: Schon die erste Filmminute zeigt US-Präsident Donald Trump, Adolf Hitler und Wladimir Putin. Die kurzen Einstellungen stammen aus einem Video der linken Szene, in dem zum Mord an der Fraktionsvorsitzenden der fiktiven Partei "Die Neuen Patrioten" aufgerufen wird: Nina Schramm (Anja Kling, Schleichendes Gift) ist das Tatort-Pendant zu Frauke Petry oder Alice Weidel - und auch wenn die Idee zu diesem Tatort bereits viel früher entstand, trifft Steins Politthriller wenige Monate nach dem Einzug der AfD in den Bundestag noch immer den Puls der Zeit. Auch das einleitende Aufeinandertreffen von Polizisten und linksautonomen Gewalttätern erinnert an ein Ereignis, das noch nicht lange zurückliegt: an den G20-Gipfel im Juli 2017, zu dessen Zeitpunkt der Film gerade erst abgedreht war. Irgendwo zwischen den politischen Extremen bewegen sich die Ermittler und werden so für das Gros der Zuschauer zur Projektionsfläche: Die Hamburger Bundespolizisten Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) und Julia Grosz (Franziska Weisz) werden von ihrer Chefin Luisa Salvoldi (Clelia Sarto, Dschungelbrüder) zum Schutz der umstrittenen Rechtspopulistin Schramm abgestellt - was vor allem Falke nicht passt, dessen tolerantes Weltbild sich kaum mit dem der Politikerin vereinbaren lässt. Dass kurz darauf ihr Ehemann Richard (Udo Schenk, Kalte Wut) bei einem Attentat stirbt, können die Ermittler aber so oder so nicht verhindern - und stehen nun vor den beiden Fragen, ob der Anschlag in Wahrheit seiner Frau galt und wer die tödliche Bombe im Wagen deponiert hat.
Salvoldi: "Gehen wir davon aus, der Anschlag galt Nina Schramm. Wer profitiert davon?"
Falke: "Deutschland."
Niki Stein hat bereits in Manila, Bildersturm oder Der Inder komplexe politische Stoffe in spannende Krimis umgemünzt - und auch sein 14. Tatort, der beim Filmfest Hamburg 2017 seine Vorpremiere feierte, ist wieder gelungen. Denn während er bei Schramms Parteifreunden mitunter etwas dick aufträgt - bei Wahlkampfmanager Benjamin Reinders (Ben Braun, Mord ist die beste Medizin) dudelt beispielsweise Rechtsrock im Auto - beleuchtet er die Parteichefin differenziert und lockt den Zuschauer auf gefährliches Terrain: Einige Argumente der gewieften Politikerin würde man glatt unterschreiben, wüsste man nicht, dass sie die Wahrheit geschickt verkürzt und ihre Partei nur allzu gern in der Opferrolle sieht. Die Ermittler sind damit oft überfordert: Falke verweist zwar auf seine glückliche Kindheit im Multi-Kulti-Stadtteil Billstedt, wird von Schramm aber mühelos ausgekontert ("Da wo sie aufgewachsen sind, hab ich mit meiner Partei 13 Prozent geholt."). Grosz verhält sich besonnener, weiß Schramms Provokationen im Hinblick auf die dringend notwendige Aufstockung des Polizeiapparats (eine bekannte AfD-Forderung) aber ebenso wenig zu kontern. Statt die charismatische Rechtspopulistin plump zu dämonisieren, verleiht Stein ihr menschliche Züge: In einer der stärksten Szenen verliert Schramm die Fassung, weil sie dem Druck der anstehenden Wahlen und der verschärften Sicherheitslage nicht mehr standhalten kann. Wie sehr auch die Bundespolizei unter Beobachtung steht, zeigt ein Besuch beim potenziellen Bombenbauer Vincent (Jordan Dwyer), der von der radikalen Paula (Sophie Pfenningstorf, HAL) gekonnt instrumentalisiert wird: Grosz verstößt gegen die Vorschriften, um ja nicht mit leeren Händen ins Präsidium zu kehren und den Kritikern der vermeintlich voreingenommenen Polizei in die Karten zu spielen (Schramm: "Sind wir mal wieder auf dem linken Auge blind, ja?"). Die politische Debatte und der temporeich erzählte Kriminalfall, bei dem die Auflösung der Täterfrage oft in den Hintergrund tritt, fallen damit unterm Strich sehr überzeugend aus, doch im Hinblick auf die Besetzung der kleineren Nebenrollen schwächelt der Film: Gleich mehrere Schauspieler bringen hier kein gehobenes Primetime-Niveau mit. Ganz anders die Hauptdarsteller: Anja Kling liefert als Spitzenpolitikerin eine Spitzenperformance ab und auch Wotan Wilke Möhring und Franziska Weisz harmonieren in Dunkle Zeit besser als im enttäuschenden Vorgänger Böser Boden. Darüber hinaus ist der 1039. Tatort interessant für die Figurenentwicklung: Die sensible Grosz verweigert Falke das Duzen und zeigt sich nach einem aufbrausenden Kommentar verletzter, als der es für möglich gehalten hätte. Nach Feierabend dürfen wir die Afghanistan-Rückkehrerin aber noch nicht erleben - anders als Falke, der die Politikverdrossenheit seines Sohnes Torben (Levin Liam) nicht unkommentiert lässt. Gut so.

Bewertung: 7/10

Der wüste Gobi

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Folge: 1040 | 26. Dezember 2017 | Sender: MDR | Regie: Ed Herzog

So war der Tatort:

Bild: MDR/Wiedemann & Berg/Anke Neugebau
Ähnlich pointenreich und unterkühlt wie der Münster-Tatort Das zweite Gesicht: War es 2006 der genervte Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl), der seinem Kollegen und Vermieter Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) nach einem Heizungsausfall im Winter damit drohte, seinen teuren Parkettfußboden zu verheizen, so sind es in Der wüste Gobi die Weimarer Kollegen Lessing (Christian Ulmen) und Kira Dorn (Nora Tschirner), die nach Feierabend mit arktischen Temperaturen im Schlafzimmer zu kämpfen haben. Obwohl sie ihr Kind in Charlotte-Lindholm-Manier ausquartiert haben und jede freie Minute zum Kuscheln nutzen, wird das Bekämpfen der Flaute im Ehebett dadurch zum Kampf gegen Windmühlen - denn Lessings lange Unterhosen entpuppen sich ebenso als Liebestöter wie Dorns kuscheliger Parka, der sogar unter der Bettdecke anbleibt. Das regelmäßige Scheitern der Kommissare ist eine Weile ganz amüsant - verbraucht sich als Running Gag im Weihnachtstatort 2017 aber ebenso schnell wie die Tatsache, dass ihr emsiger Kollege Ludwig "Lupo" Pohl (Arndt Schwering-Sohnrey) regelmäßig in die aufkeimende Romantik platzt. "Das Leben ist wie 'ne Bratwurst - man weiß nie, was drinsteckt", kommentiert Lupo bei einem Verhör in Anspielung auf die berühmteste aller Forrest Gump-Szenen - doch für den Tatort aus Weimar gilt das schon lange nicht mehr. Auch Der wüste Gobi ist wieder gespickt mit viel Dialogwitz und unzähligen Gags, von denen aber bei weitem nicht jeder zündet. Zu den originelleren Einfällen der Drehbuchautoren Andreas Pflüger und Murmel Clausen, die bereits die ersten vier Folgen mit Lessing und Dorn konzipiert haben, zählen die subtilen Anspielungen auf eben diese Fälle - so auch bei Dorns Gespräch mit Professor Eisler (Ernst Stötzner, Der Fall Holdt), in dem sie den Chefarzt der Weimarer Psychiatrie augenzwinkernd auf Lupos Odyssee im Vorgänger Der scheidende Schupo hinweist.
Eisler: "Der darf für Sie arbeiten?"
Dorn: "Er hat 'ne sehr schwere Zeit mitgemacht."
Eisler: "Vielleicht schicken Sie ihn mal bei mir vorbei."
Aus eben jener Anstalt ist der gar nicht mal so böse Bösewicht dieses Schmunzelkrimis entkommen und hat neben einer toten Krankenschwester auch deren schockierte Kollegin Paola Koslowski (Mirjam Heimann, Ihr Kinderlein kommet) hinterlassen: Der dreifache Frauenmörder Gotthilf "Gobi" Bigamiluschvatokovtschvili (Jürgen Vogel, Rendezvous) hegt neben einer starken Abneigung gegen Spinnen eine fetischähnliche Vorliebe für gestrickte Damen-Unterwäsche - und hat gleich das gesamte weibliche Pflegepersonal mit entsprechenden Dessous versorgt. Seiner Verlobten Mimi Kalkbrenner (Jeanette Hain, Fangschuss), die den Ausbrecher vorübergehend vor der Polizei versteckt, passt das natürlich gar nicht - aber ist ihr Herzblatt überhaupt der gesuchte Mörder? Für Genrekenner ist das Erraten der Auflösung nur Formsache, doch treffen wir auf dem gemütlichen Weg dorthin zumindest auf herrlich schräge Figuren: Hobby-Jäger Eisler sammelt mit seinen trockenen Sprüchen, einem dramatisch endenden Suppen-Malheur und einem kultverdächtigen Eichhörnchen-Abschuss ("Du kackst mir nicht mehr in mein Cabrio!") jede Menge Sympathiepunkte und den psychisch labilen Gobi schließen wir dank seiner skurrilen Vorlieben ohnehin sofort ins Herz. Überhaupt scheint sich Jürgen Vogel in seiner Rolle wohler zu fühlen als bei seinem letzten Tatort-Auftritt in der schwachen Ludwigshafen-Folge LU, in der er mit Hauptkommissarin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) auf Tuchfühlung ging. Eher unterfordert wirkt hingegen Jeanette Hain (Scheinwelten) in ihrer tadellos gespielten, aber eindimensionalen Rolle als Verbrecher-Verlobte - deren fast krankhafte (wenn auch berechtigte) Eifersucht will auch nicht so recht zum seichten Erzählton passen, der ansonsten vorherrscht. Dem unterirdischen Setting in der Kanalisation, durch die Gobi nach seinem Ausbruch flüchtet, gewinnen die Filmemacher um Regisseur Ed Herzog (Côte d'Azur) zudem weit weniger ab als ihre Kollegen im herausragenden Kieler Tatort Borowski in der Unterwelt oder im zwei Wochen zuvor gesendeten Berliner Tatort Dein Name sei Harbinger: Erst in den Schlussminuten führt der Weg der Ermittler tatsächlich in die feuchte Finsternis unter der Dichterstadt - im Vorfeld krabbelt Gobi einfach verschmutzt durch einen Gullydeckel ins Freie und behauptet dann, er sei dort gewesen. Die Fans von Lessing und Dorn werden darüber ebenso hinwegsehen können wie über die fehlende Spannung und so manchen misslungenen Gag von Kripo-Karikatur Kurt Stich (Thorsten Merten), der mit seinen vielen Flachwitzen in bester Gesellschaft ist.

Bewertung: 6/10

Mord Ex Machina

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Folge: 1041 | 1. Januar 2018 | Sender: SR | Regie: Christian Theeden

So war der Tatort:

Bild: SR/Manuela Meyer
Seriös. Und das ist durchaus als Kompliment zu verstehen: Vorbei sind die Tage, in denen Knalltüten-Kommissar Jens Stellbrink (Devid Striesow) mit bunten Wickelhosen, Riesenhelm und Riesenbrille auf seinem roten Roller durch Saarbrücken raste - und vorbei sind zum Glück auch die Tage, in denen der Saar-Tatort wie in Melinda oder Eine Handvoll Paradies zur mittelschweren Krimi-Katastrophe geriet. In Mord Ex Machina - dem vorletzten Fall mit Striesow, der im Sommer 2017 seinen Ausstieg ankündigte - ermittelt Stellbrink mit einer Seriösität, die man dem einstigen Chaos-Cop kaum noch zugetraut hätte. Und während es dem ebenfalls bodenständigen Vorgänger Söhne und Väter trotz guter Ansätze an einem überzeugenden Drehbuch mangelte, ist auch die Geschichte diesmal ordentlich: Die Tatort-Debütanten Hendrik Hölzemann und David Ungureit beschäftigen sich in ihrem Skript ausführlich mit dem Thema Big Data - ganz neu ist das allerdings nicht, denn die Gefahren der Datenspeicherung wurden auch schon im schwachen Bremer Tatort Echolot oder im futuristischen Stuttgarter Tatort HAL aufgearbeitet. In Mord Ex Machina schießt nun Sebastian Feuerbach (Nikolai Kinski, Rache-Engel), der Justiziar des IT-Unternehmens Conpact, spektakulär mit seinem Wagen über eine Brüstung - der Autopilot seines Fahrzeugs ist außer Kontrolle geraten. Sein eigener Arbeitgeber hatte den Prototypen mit der nötigen Technik ausgestattet und dabei reichlich Daten gesammelt: Die aufstrebende Firma von Victor Rousseau (Steve Windolf, Alles hat seinen Preis) ist auf Big Data spezialisiert und hatte außerdem die smarte Hackerin Natascha (Julia Koschitz, Großer schwarzer Vogel) damit beauftragt, das System auf Schwachstellen zu prüfen. Die schleust ihre Signatur dank einer Sicherheitslücke mühelos ein und stürzt den verdutzten Stellbrink bei dessen Befragungen von einer Verlegenheit in die nächste.
Stellbrink: "Sie sprachen von der Signatur. Wie sieht die aus?"
Natascha: "Ich schick sie Ihnen per Mail."
Stellbrink: "Aber Sie haben meine Mailadresse nicht."
Natascha: "Ich schick sie Ihnen per Mail."
Das Tatort-Jahr 2018 startet mit einem soliden Whodunit und stimmt trotz einiger Klischeefallen und Stellbrinks komplett überzogener Moral von der Geschicht' nachdenklich: Wenn die charismatische Natascha nach einer kurzen Recherche fast mehr über die letzten Jahre im Leben des Kommissars weiß als der selbst, überlegt man sich zukünftig vielleicht genauer, welche privaten Details man mit der Online-Welt teilen möchte. Die opportunistisch-aufreizende Lisbeth Salander-Variation entpuppt sich zugleich als vielschichtige Antagonistin - und auch Firmenchef Rousseau wirkt bei weitem nicht so überzeichnet wie viele seiner IT-affinen Vorgänger in der jüngeren Tatort-Geschichte (man denke nur an das wandelnde Start-Up-Klischee Magnus Cord im schwachen Dresdner Tatort Level X). Was der 1041. Tatort-Ausgabe zu einem wirklich gelungenen Cyber-Krimi fehlt, ist allerdings ein funktionierendes Ermittlerteam: Schon die Eröffnungssequenz macht deutlich, wie sehr sich die Hierarchie im Saarland mittlerweile verschoben hat. Zuerst leuchtet dort Striesows Name auf - doch dann folgt nicht etwa das Saarbrücker Stammensemble, sondern es folgen die Schauspieler, die in Mord Ex Machina die Verdächtigen spielen. Hauptkommissarin Lisa Marx (Elisabeth Brück) steht im SR-Tatort komplett auf dem Abstellgleis, denn gemeinsam mit Kommissarsanwärterin Mia Emmrich (Sandra Maren Schneider), Spurensicherungsleiter Horst Jordan (Hartmut Volle) und Staatsanwältin Nicola Dubois (Sandra Steinbach) ist sie nur noch eine von vier austauschbaren Kollegen, die Stellbrink einfach im Präsidium lässt, wenn er auf dem Motorrad zur nächsten Befragung düst. Selbst bei den wenigen gemeinsamen Teamszenen will es aber noch immer nicht richtig flutschen: Die Dialoge klingen geplant und aufgesagt, vieles wirkt verkrampft und nur wenig natürlich. Auch ästhetisch ist im siebten Stellbrink-Tatort nicht alles Gold, was glänzt: Regisseur Christian Theede und Kameramann Simon Schmejkal (Totenstille) fangen das Geschehen zwar vor stylish-sterilen Kulissen und in auffallend kalten Farben ein, die ihrem modernen IT-Krimi gut zu Gesicht stehen, doch hätte man sich gerade beim Soundtrack mehr Mut und Eigenständigkeit gewünscht. Denn der minimalistisch gehaltene Beat, der bei einigen Außenaufnahmen Dynamik ins Geschehen bringen soll, ist kaum mehr als ein billiger Abklatsch des Chromatics-Songs Tick of the Clock, der in den letzten Jahren nicht nur Nicolas Windings Refns Neo-Noir-Meisterwerk Drive, sondern auch den TV-Spot einer deutschen Bank veredelte. Dann doch lieber das Original.

Bewertung: 5/10

Kopper

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Folge: 1042 | 7. Januar 2018 | Sender: SWR | Regie: Roland Suso Richter

So war der Tatort:

Bild: SWR/Roland Suso Richter
So kopperfixiert wie lange nicht mehr - denn der 57. Einsatz von Hauptkommissar Mario Kopper (Andreas Hoppe) ist zugleich sein letzter. Dabei ist sein erster Fall bis zuletzt sein bester geblieben: Als Hoppe 1996 in der herausragenden Folge Der kalte Tod sein Debüt in Ludwigshafen feierte, hätte er sich wohl kaum träumen lassen, dass er dem Tatort noch weitere 21 Jahre erhalten bleiben würde. Doch spätestens, als der SWR 2014 zusätzlich zur langjährigen Kollegin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) die neue Fallanalytikerin Johanna Stern (Lisa Bitter) im Team installierte, geriet der deutsch-italienische Kommissar aufs Abstellgleis: In missglückten Folgen wie LU oder dem desaströsen Impro-Experiment Babbeldasch war Kopper kaum noch wahrnehmbar (und beklagte dies in einem Interview deutlich). Im 1042. Tatort ist alles ganz anders: Fast scheint es so, als wolle der SWR mit Kopper in nur einer Folge wiederaufbauen, was er in den letzten Jahren konsequent eingerissen hat. Statt hölzerner Dialoge und der biederen Aufmachung, in der der Fadenkreuzkrimi aus Ludwigshafen zuletzt oft daher kam, liefern Regisseur Roland Suso Richter (Du gehörst mir) und Drehbuchautor Patrick Brunken (Roomservice) einen dynamischen und temporeichen Mafia-Thriller, in dem Kopper einleitend in Notwehr einen Italiener erschießt, der es auf seinen Jugendfreund Sandro Giangreco (Michele Cuciuffo) abgesehen hat. Nun bittet Sandro ihn darum, ihm ins Zeugenschutzprogramm zu verhelfen - doch weil Kopper selbst ins Visier der Mafia gerät und Odenthal keinen reinen Wein einschenkt, ist mit dem zentralen Konflikt ein stabiles Fundament für eine spannende und modern erzählte Geschichte gelegt. Nur in einer Szene wirkt Kopper ein Stück weit aus der Zeit gefallen:
Kopper: "Und, was brauchen sie?"
Sandro: "Eine Aussage auf Video."
Kopper:"Gut, dann gehe ich mal 'nen Camcorder besorgen."
Kopper ist ein gelungener Tatort, der dank einiger knackiger Action-Einlagen nie langweilt und um Längen stärker ausfällt als die vielen schwachen Odenthal-Fälle der letzten Jahre. Der undurchsichtige Sandro spielt mit gezinkten Karten und bringt den scheidenden Kommissar dadurch gehörig in Bedrängnis, während Odenthal und Stern diesmal an einem Strang ziehen und selbst in Gefahr geraten: Wenngleich keine Pferdeköpfe im Bett liegen (das entsprechende Zitat von Spurensicherungsleiter Peter Becker ist eine von mehreren Anspielungen auf die Der Pate-Trilogie), wird die unmittelbare Bedrohung durch die Mafia dank unliebsamer Überraschungen vor der Wohnung oder Patronen im Dienstwagen greifbar. Der Rahmenhandlung um illegale Geschäfte mit Chemiemüll fehlt es allerdings an Substanz und nicht alle Figuren sind frei von Klischees: Während LKA-Kollegin Manz (Saskia Vester, Zwei Leben) erfreulicherweise nicht dem üblichen Muster entspricht und sich der Kripo gegenüber freundlich und kooperativ zeigt, verkörpert Andreas Leupold (Großer schwarzer Vogel) mit dem uneinsichtig-arroganten Oberstaatsanwalt Benninger genau die eindimensionale Figur, der wir in der Krimireihe schon unzählige Male begegnet sind. Die nervtötenden Scharmützel im Präsidium, die den Tatort aus der Kurpfalz zuletzt häufig zur Geduldsprobe werden ließen, sucht man diesmal aber vergeblich: Im Zentrum der Geschichte steht Koppers komplizierte Vertrauensverhältnis zu Sandro und seinen Kolleginnen - und doch entfaltet der Film am Ende nicht ganz die emotionale Wucht, die möglich gewesen wäre, wenn man den gebürtigen Sizilianer in den Drehbüchern der letzten Jahre nicht zum austauschbaren Sidekick degradiert hätte. Von Koppers neuer Verlobter Maria (Marzia Tedeschi) kennen wir beispielsweise nur den Vornamen - das macht sich spätestens dann bemerkbar, als die Mafia sie als Druckmittel verwendet und dabei kein echtes Mitfiebern stattfinden will. Die allerletzte Chance, Kopper als Figur mal wieder intensiver auszuloten, nutzen die Filmemacher ohnehin nur bedingt: Wenngleich in der Einleitung der Bogen in Koppers Kindheit geschlagen wird, erfahren wir kaum Neues über sein Aufwachsen in Italien. Auch die unpersönlichen Einblendungen in der Schlusssequenz erinnern eher an den Abspann einer Crime-Soap im Nachmittagsfernsehen als dass sie seinen Abgang standesgemäß abrunden würden. Dank der genannten Qualitäten ist Kopper dennoch der beste LU-Tatort seit vielen Jahren - und damit ein würdiger Abschiedsfall für Andreas Hoppe. Arrivederci, Mario!

Bewertung: 7/10
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