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Channel: Wie war der Tatort?
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Das Mädchen, das allein nach Haus' geht

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Folge: 1201 | 22. Mai 2022 | Sender: rbb | Regie: Ngo The Chau
Bild: rbb/ARD/Hans Joachim Pfeiffer
So war der Tatort:

Ü-BER-ragend.

Der actiongeladene, hochemotionale und fantastisch gespielte Showdown der letzten Tatort-Folge mit Hauptkommissarin Nina Rubin (Meret Becker) spielt nämlich in den finsteren Katakomben und auf den nächtlichen Rollfeldern des BER– und setzt nicht nur ein aufwühlendes Ausrufezeichen hinter diesen tollen Krimi, sondern auch hinter die höchst unterhaltsame Tatort-Ära von Nina Rubin, die 2015 in Das Muli erstmalig mit ihrem Kollegen Robert Karow (Mark Waschke) auf Täterfang ging.

Das Mädchen, das allein nach Haus' geht ist allerdings keiner dieser typischen Abschiedsfälle, die allein um die Abschied nehmende Figur gestrickt sind und die den Kriminalfall dadurch aus dem Blickfeld verlieren. Bei der titelgebenden jungen Frau handelt es sich auch nicht um Rubin, die bekanntlich gern in Begleitung nach Haus' geht. Sondern um die verzweifelte Julie Bolschakow (Bella Dayne), die die Berliner Kommissarin und zweifache Mutter nach dem Fund einer kopf- und tattoolosen Leiche in der Spree um Hilfe bittet.

Bolschakow hat sich in einen russischen Clan eingeheiratet und will in ein Zeugenschutzprogramm aussteigen: Sie beschuldigt ihren skrupellosen Gatten Yasha Bolschakow (Oleg Tikhomirov), den Mord an dem schnell identifizierten Opfer verübt zu haben. Drehbuchautor Günter Schütter, der in den 90er Jahren die Geschichte zum Münchner Tatort-Meilenstein Frau Bu lacht schrieb, scheint aber gar kein gesteigertes Interesse an der Auflösung der Täterfrage zu haben. Vielmehr hat er Meret Becker zum Abschied einen Mafiathriller geschrieben, der vor allem im Mittelteil an die starke Jubiläumsdoppelfolge In der Familie (1) und In der Familie (2) von 2020 erinnert.

Antriebsfeder des temporeich und düster inszenierten, oft mit einem wummernden Elektro-Score unterlegten Geschehens ist unter Regie und Bildgestaltung von Ngo The Chau (Willkommen in Hamburg) die Frage, ob Julie den Ausstieg wirklich schafft. Und wer die Ratte im Präsidium ist, die den Clan mit Infos versorgt. Kriminaldirektorin (Nadeshda Brennicke, Alles kommt zurück), die Karow nicht einweiht? Staatsanwalt Kemmrich (Gode Benedix, Gefährliches Schweigen)? Oder der Polizeipsychologe (Tristan Seith, Tanzmariechen), der gerade ein teures Eigenheim abbezahlt? Die Antwort ist zwar nur Formsache, tut der hohen Spannung aber keinen Abbruch. Und Rubins gewohnt markigen Sprüchen sowieso nicht.


RUBIN:
Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt's einen, der den Käpt'n vögelt. Der Käpt'n bin ich.


Das Mädchen, das allein nach Haus' geht ist ein sehr stimmungsvoller, packender Tatort und ein absolut würdiger Abschiedsfall für Nina Rubin, die an der Spree 2023 von Susanne Bonard (Corinna Harfouch) beerbt wird (weitere Informationen). Trotz kleinerer Nebenschauplätze wie einem Murmelkniff von Assistent Malik Aslan (Tan Caglar) ist die Geschichte jederzeit mitreißend erzählt und hat jede Menge Herz: Zu den intensivsten Sequenzen gehört ein Ausflug in einen Frauen-Tanzclub, in dem sich Julie Bolschakow und Nina Rubin zu den sanften Klängen der wunderbaren Rosenstolz-Ballade "Liebe ist alles" aneinanderschmiegen.

Wenngleich Bolschakow durch ihre Naivität nicht von Beginn an zur Identifikationsfigur für den Zuschauer taugt, so drücken wir ihr doch irgendwann fest die Daumen: Ihre Beinahe-Entdeckung im Büro ihres mordenden Gatten zählt zu den besten Suspense-Momenten der 1201. Tatort-Folge, die zu großen Teilen nachts oder im Dunkeln spielt und die trotz kleinerer Klischeefallen eine der besten des Jahres 2022 ist. So stark war der Rubin-Tatort, der mit dem grandiosen Mindfuck Meta und dem erstklassigen Krimidrama Amour Fou zwei echte Highlights zur Krimireihe beisteuerte, schon länger nicht mehr. Auch Karows Erinnerungen, die hier und da elegant mit dem Geschehen in der Gegenwart verschmelzen, sind großes Kopfkino.

Im Interview von 2021 verriet uns Meret Becker, dass Amour Fou ihr Berliner Lieblingstatort ist, weil er "ein richtiger Film" sei. Das trifft auch auf ihren Abschiedsfilm zu: Das Mädchen, das allein nach Haus' geht steht der genannten Folge emotional in nichts nach. Die stets zwischen Siezen und Duzen wechselnden Wortgefechte mit Karow entwickeln eine Dynamik, wie sie Berlin oft, aber doch nicht immer erreicht hat, und auch der einleitend erwähnte Showdown auf dem BER-Rollfeld geht gehörig an die Nieren. Am Ende ist es nicht etwa Rubin, sondern Karow, der allein nach Haus' geht – wenn seine Tränen irgendwann getrocknet sind. 


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