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Channel: Wie war der Tatort?
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Der Mörder in mir

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Folge: 1209 | 18. September 2022 | Sender: SWR | Regie: Niki Stein
Bild: SWR/Benoît Linder
So war der Tatort:

In der Ouvertüre verwandt mit dem Teenie-Slasher "Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast"– und das, obwohl der Krimi nicht im US-amerikanischen Fischerstädtchen Southport, sondern im winterlichen Schwabenländle spielt.

Wir erinnern uns: Waren es in der Hollywood-Produktion von 1997 feiernde Jugendliche, die nachts einen Mann überfuhren und halbtot im Straßengraben liegen ließen (und es schon bald bereuen sollten...), ist es in diesem Tatort ein unbescholtener Familienvater. Ben Dellien (Nicholas Reinke, Auf einen Schlag) braust einleitend im SUV über die traditionsreiche Solitude-Rennstrecke. Auf seiner Fahrt durchs Glemstal ist er kurz abgelenkt und fährt im nächtlichen Starkregen den Obdachlosen "Foxy"über den Haufen. Er steigt aus, entdeckt die Mütze des Schwerverletzten an seinem Scheibenwischer, zögert und – steigt wieder ein und fährt weg. Fahrerflucht mit Todesfolge.

Denn am nächsten Morgen kann der zufällig vorbeiradelnde Rechtsmediziner Dr. Daniel Vogt (Jürgen Hartmann), der die kurvenreiche Steigung tapfer mit dem Rennrad zurücklegt, nur noch das Ableben des Angefahrenen feststellen: Die humorvoll variierte Tatortbegehung ist die erste von zahlreichen originellen Abwandlungen der Standardmomente, mit der dieser hochinteressante und mit reichlich Lokalkolorit durchsetzte Krimi gespickt ist. Mit der schwäbischen Kommissarsanwärterin Marlene Teichert (Newcomerin Julia Dorothee Brunsch) gibt es zudem eine neue Figur, die bei der Vorpremiere des Krimis auf dem SWR Sommerfestival 2022 für Lacher sorgte und praktisch jede Szene stiehlt.

Auch müde Klischees werden im 1209. Tatort umschifft, und das sogar bei einer Berufsgruppe, die es in Sonntagskrimis oft schwer hat: Denken wir an den schwachen Schweizer Vorgänger Risiken mit Nebenwirkungen oder den Stuttgarter Tatort Eine Frage des Gewissens, werden Juristen im Tatort fast immer kalt und unsympathisch gezeichnet. Nicht so in dieser Folge: Wenngleich sein eigener Advokat, Dr. Al-Husain (Hassan Lazouane), ins übliche Muster passt, plagen den Anwalt Dellien heftige Gewissensbisse. Auch sonst räumt Regisseur und Drehbuchautor Niki Stein unaufdringlich mit Vorurteilen auf – etwa wenn Hauptkommissar Thorsten Lannert (Richy Müller) und sein mies gelaunter Kollege Sebastian Bootz (Felix Klare) das Hab und Gut des Obdachlosen durchsuchen.


BOOTZ:
Wofür braucht der 'nen Wecker?

LANNERT:
Du meinst, Obdachlose haben keine Termine? Was meinst du, wie oft die antanzen müssen beim Amt?


Der Mörder in mir ist der zweite Stuttgarter Tatort binnen weniger Jahre, in dem der Hauptverdächtige ungewohnt stark im Zentrum des Geschehens steht und in dem die machtlosen Kommissare ins zweite Glied rücken. 2018 war das im großartigen Tatort Der Mann, der lügt, der konsequent aus der Perspektive des Mörders erzählt wurde, sehr ähnlich. Und auch vier Jahre später findet zwar vieles vor den Augen des TV-Publikums, aber nicht vor den Augen der Ermittler statt. Das klassische Krimikorsett wird gesprengt, die Täterfrage gar nicht gestellt. Es geht um die Schuld, den Umgang mit ihr – und die aufwühlende Angst davor, enttarnt zu werden.

Was tun, wenn man in einer einzigen Sekunde ein nicht wiedergutzumachendes Unglück anrichtet? Und nicht nur das Leben eines Unschuldigen auslöscht, sondern auch sein eigenes ruiniert? Eine Horrorvorstellung, die wohl jeder Autofahrer fürchtet – und genau das macht diesen mit unverbrauchten Gesichtern besetzten Tatort so reizvoll. Dellien neigt zu Verzweiflungsaktionen, offenbart sich seiner Gattin Johanna (Christina Hecke, Der Wüstensohn) und Nachbarin Laura Rensing (Tatiana Nekrasov, Macht der Familie), die das ohnehin längst geahnt hat.

Auch in Rensings Kopf beginnt das große Rattern, weil sie durch die Bekanntschaft mit den Delliens und ein Jobangebot vom Schweigen profitieren könnte. Solch vertrackte Entscheidungsstudien von Menschen, die unverhofft in eine verzwickte Lage geraten, kennt man in der Krimireihe vor allem von Drehbuchautor Sascha Arango, der das etwa in Borowski und der Engel oder in Borowski und das Glück der Anderen zelebrierte.

Filmemacher Niki Stein, der zuletzt Macht der Familie und einige Jahre zuvor die starke Stuttgarter Tatort-Folge HAL inszenierte, spitzt diese Ausnahmesituation konsequent zu und treibt die Spannung genüsslich auf die Spitze. Das ist nicht ganz glaubwürdig, aber höchst unterhaltsam. So gehen etwa die Kinder des Mörders in dieselbe Schulklasse wie die Kinder der Zeugin, die das demolierte Auto des Täters in der Waschanlage reinigt und dabei eine verräterische Kopfbedeckung entdeckt. Konstruierte, aber wirkungsvolle Zufälle.

Will man an Der Mörder in mir etwas bemängeln, dann den Kitsch: Dass der Obdachlose mit einem Stofftier auf dem Weg zum Geburtstag seines verstorbenen Sohnes war, hätte man auch weniger schwülstig erzählen können, ohne dass der Tod an Tragik verloren hätte. Auch das offene Ende, das wir in → diesem Artikel erörtern, dürfte polarisieren. Und dann sind da noch zwei Sequenzen, die man besser nachsynchronisiert hätte: Christina Hecke schwäbelt sich tapfer durch den gesamten Krimi – im Krankenhaus spricht die gebürtige Stuttgarterin aber plötzlich lupenreines Hochdeutsch. Kleine Schönheitsfehler in einem ansonsten erstklassigen Krimidrama.

Bewertung: 8/10




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