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Channel: Wie war der Tatort?
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Die Geschichte vom bösen Friederich

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Folge: 983 | 10. April 2016 | Sender: HR | Regie: Hermine Huntgeburth

So war der Tatort:

Bild: HR/Bettina Müller
Herrmannesk. Denn wie schon im wunderbaren Wiesbadener Tatort-Meilenstein Im Schmerz geboren sorgt beim dritten Fall der Frankfurter Hauptkommissare Anna Janneke (Margarita Broich) und Paul Brix (Wolfram Koch) das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks für die musikalische Begleitung - und setzt mit den an das Gesamtwerk von Hollywood-Legende Bernard Herrmann erinnernden Klängen das stimmungsvolle i-Tüpfelchen auf den bis dato besten Tatort des Jahres 2016. Die Geschichte vom bösen Friederich dürfte manchem Zuschauer als Titel bekannt vorkommen, denn sie stammt aus dem gruseligen Kinderbuch-Klassiker Struwwelpeter und lehrt uns: Wer Tiere quält, der muss am Ende dafür büßen. Das Verbrennen eines Kaninchens und das Massakrieren einer Katze zählt allerdings noch zu den harmloseren Gräueltaten des gewieften Psychopathen, mit dem es die Frankfurter Ermittler zu tun bekommen: Frauenmörder Alexander Nolte (Nicholas Ofczarek, Der oide Depp), der schon als Schüler seine Eltern und Lehrer zur Verzweiflung trieb und später seine Freundin eiskalt in der Badewanne ertränkte, wurde nach fast zwanzig Jahren aus dem Gefängnis entlassen. Das durchtriebene und charismatische Tatort-Pendant zum wütenden Friederich aus dem Struwwelpeter ersticht den bettelnden Obdachlosen Martin Busche (Manuel Harder, Todesschütze), ohne mit der Wimper zu zucken, und nimmt Kontakt zu Janneke auf: Die frühere Polizeipsychologin hatte einst das Gutachten erstellt, das Nolte ins Gefängnis brachte. Dank der Fürsprache von Psychologin Helene Kaufmann (Ursina Lardi, Freddy tanzt), die ein Verhältnis mit ihrem vordergründig besserungswilligen und eleganten Klienten begonnen hat, kam er später allerdings wieder auf freien Fuß - und lockt Janneke in seine spärlich eingerichtete Wohnung.
Nolte: "Kaffee? Kekse? Ist Mozart okay?"
Die leinwanderprobte Regisseurin Hermine Huntgeburth inszeniert zum allerersten Mal einen Tatort - und angesichts des hohen Unterhaltungswerts wünscht man sich sehr, dass ihr erster Beitrag zur Krimireihe doch bitte nicht ihr letzter bleiben möge. Passend zu den herrmanesken Klängen des Sinfonieorchesters durchsetzt die Filmemacherin ihren packenden Psychothriller mit vielen Suspense-Momenten, die an Alfred Hitchcock erinnern: Wenn Nolte in Jannekes Küche seelenruhig zum Messer greift oder Brix' ahnungsloser Mitbewohnerin Fanny (Zazie de Paris) einen Besuch abstattet, dürfte vielen Zuschauern ein Schauer über den Rücken laufen. Dass der Zuschauer von Beginn an um die Tat des Ex-Knackis weiß, erweist sich dabei als Vorteil: Die Geschichte vom bösen Friederich ist ein weiterer Beleg für die alte Tatort-Weisheit, dass die wenigen Folgen, bei denen der Mörder von Beginn an fest steht, oft die besseren sind. Hier geht es nicht darum, den Täter zu finden, sondern weiteres Morden zu verhindern: Losgelöst von den üblichen Erzählstrukturen der Krimireihe spitzt Drehbuchautor Volker Einrauch Jannekes Konfrontation mit Nolte immer stärker zu. War es im letzten Frankfurter Tatort Hinter dem Spiegel noch Brix, der von seiner Zeit bei der Sitte eingeholt wurde, muss sich diesmal Janneke ihrer Vergangenheit stellen, denn sie erlag einst Noltes Charme und scheint als Einzige zu erkennen, dass sich bei ihm um den gesuchten Mörder und einen personifizierten Alptraum handelt. Das ist zwar nicht hundertprozentig glaubwürdig, aber ungemein unterhaltsam. Nicht von ungefähr weckt der blendend aufgelegte Theaterschauspieler Nicholas Ofczarek in seiner Rolle Erinnerungen an Kult-Killer Kai Korthals (Lars Eidinger), der es in Borowski und der stille Gastsowie in Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes schon zweimal mit den Kieler Kommissaren zu tun bekam: Der ebenso unberechenbare und manipulative Bösewicht lebt seine blutigen Phantasien und perversen Tagträume direkt vor den Augen des Zuschauers aus und lässt ihn so an seiner unbändigen inneren Wut teilhaben. Eher plump wirken allerdings die brachialen Rammstein-Klänge, die das Naturell des Killers unterstreichen und den Film musikalisch rahmen sollen: Hier wäre weniger mehr gewesen. Kleinere Schönheitsfehler sind aber auch dank des hochspannenden Schlussdrittels locker zu verschmerzen: Dank der herausragenden Filmmusik, vieler Spannungsmomente und einem tollen Bösewicht ist der dritte Fall von Janneke und Brix ihr bisher bester.

Bewertung: 8/10


Der treue Roy

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Folge: 984 | 24. April 2016 | Sender: MDR | Regie: Gregor Schnitzler

So war der Tatort:

Bild: MDR/Anke Neugebauer
Treu. Wie schon im Weihnachtstatort 2013 und im Neujahrstatort 2015 setzen Murmel Clausen und Andreas Pflüger (Falsches Leben) bei ihrem dritten gemeinsamen Drehbuch auf das Erfolgsrezept, das Die fette Hoppe und Der irre Iwan zu so unterhaltsamen Krimikomödien machte: Der treue Roy ist ein schräger und mit reichlich skurrilen Figuren gespickter Tatort, in dem es eher auf frechen Wortwitz und absurde Kuriositäten als auf knisternde Spannung und eine knifflige Auflösung der Täterfrage ankommt. Eine treue Seele ist auch die titelgebende Hauptfigur: Zinnsoldaten-Fan Roy Weischlitz (Florian Lukas, Im Namen des Vaters) lebt seit vielen Jahren glücklich und zufrieden mit seiner Schwester Siegrid (Fritzi Haberlandt, Summ, summ, summ) zusammen - liegt aber eines Tages bis aufs Skelett verbrannt in der Hochofenschlacke eines Stahlwerks. Eine harte Nuss für die Weimarer Kriminalkommissare Lessing (Christian Ulmen) und Kira Dorn (Nora Tschirner), die ihrer Linie ebenfalls treu bleiben: Die privaten Nebenkriegsschauplätze - die beiden necken sich hin und wieder bei der Suche nach einem gemeinsamen Eigenheim - werden nur am Rande thematisiert, ohne dass die Ermittlungsarbeit darunter leiden würde. Und doch ist Der treue Roy eine ganze Ecke schwächer als die ersten beiden Fälle aus der Dichterstadt: Es dauert eine geschlagene Stunde, bis im 984. Tatort überhaupt mal etwas Aufregendes geschieht. Eine gefühlte Ewigkeit hangeln sich Lessing und Dorn von Verhör zu Verhör und damit von One-Liner zu One-Liner - doch wirklich zünden wollen diesmal nur die wenigsten Pointen. Als besonders ermüdend erweist sich das furchtbar witzlose Denglisch, mit dem Roy die Prostituierte Irina (Nadine Boske) bezirzt:
Roy: "That's our Flugzeug in die Freiheit, Baby! But we must before noch what erledigen!"
Man muss kein Prophet sein, um früh zu erahnen, dass Der treue Roy trotz des einleitenden Funds im Stahlwerk noch immer unter den Lebenden weilt: Die Vorstellung, dass der MDR den vielfach leinwanderprobten Schauspieler Florian Lukas nur für ein kurzes Engagement als Tatort-Leiche und ein paar Schwarz-Weiz-Rückblenden in bester Der oide Depp-Manier verpflichtet hat, ist schließlich genauso absurd wie die schräge Geschichte, in der Lessing und Dorn es neben Siegrid und Roy auch mit dem unsympathischen Kriminaltechniker Johann Ganser (Matthias Matschke, Borowski und der vierte Mann), dem einbeinigen Friedhofsangestellten Karsten "Flamingo" Schmöller (Thomas Wodianka) und dem Bilderbuch-Zuhälter Frank Voigt (Sebastian Hülk) zu tun bekommen. Letzterer zeichnet dann auch für die meisten Lacher der ansonsten mit reichlich platten Wortwitzen und mäßig lustigen Albernheiten durchsetzten Krimikomödie verantwortlich: Erst knabbert der Lude seelenruhig Erdnüsse in einem Wandschrank und wird dort vom verdutzten Lessing entdeckt ("Wer sitzt da im Schrank?" - "Frank." - "Krank."), später stellt er sich selbst als Kommunikationsberatungsspezialisten und seine Prostituierte als Studentin an mehreren Fern-Unis vor. Am enttäuschenden Gesamteindruck ändert das wenig: Sorgten die Weimarer Kommissare bei ihren ersten beiden Auftritten dank köstlicher Dialoge und vieler Überraschungsmomente noch für beste Unterhaltung, liefert der komödienerprobte Regisseur Gregor Schnitzler wie schon bei seiner letzten Tatort-Arbeit Der Schrei kein überzeugendes Ergebnis ab. Am gelegentlichen Nuscheln seiner Hauptdarsteller Tschirner und Ulmen, den die schlechte Tonqualität in Der irre Iwan sogar zu einer nachträglichen Entschuldigung beim Publikum veranlasste, liegt das allerdings weniger: Eine schräge Geschichte, gute Schauspieler und eine Handvoll ordentlicher Gags machen einfach noch keinen gelungenen Tatort.

Bewertung: 4/10

Narben

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Folge: 985 | 1. Mai 2016 | Sender: WDR | Regie: Torsten C. Fischer

So war der Tatort:

Bild: WDR/Uwe Stratmann
Normal. Denn beim Kölner Beitrag Narben kommen am Maifeiertag 2016 vor allem jene Zuschauer auf ihre Kosten, die sich nach den turbulenten letzten Wochen "endlich mal wieder einen normalen Tatort" wünschen: Nach dem sperrigen Münchner Milieuthriller Mia san jetz da wo's weh tut, dem packenden Frankfurter Psychothriller Die Geschichte vom bösen Friederich und dem vieldiskutierten Weimarer Klamaukfeuerwerk Der treue Roy liefert der WDR diesmal unaufgeregte Krimi-Kost, wie man sie seit Jahren aus Köln gewöhnt ist. Dabei ist es "schon wieder was mit Flüchtlingen": Teile des Publikums beschwerten sich in den Monaten vor der Erstausstrahlung über die vermeintliche Einseitigkeit der Drehbücher, und so ganz Unrecht haben diese Kritiker nicht: Die Tatort-Autoren verarbeiten nun mal gern das aktuelle Zeitgeschehen, und so zählten zuletzt oft skrupellose Schleuser, mittellose Flüchtlinge oder illegale Einwanderer zum Kreis der Tatverdächtigen. Das ist in Narben, den Regisseur Torsten C. Fischer (Der Fall Reinhardt) mit ruhiger Hand inszeniert, ganz ähnlich: Der kongolesische Arzt Dr. Patrick Wangila (Jerry Elliott) wird erstochen vor einem Kölner Klinikum aufgefunden - und eine der ersten Spuren führt die Hauptkommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär), die wie gewohnt von Assistent Tobias Reisser (Patrick Abozen) und Gerichtsmediziner Dr. Roth (Joe Bausch) unterstützt werden, in ein Flüchtlingsheim. Dort ist zuvor eine ebenfalls aus dem Kongo stammende Frau in den Tod gestürzt, ihre beste Freundin Cecile Mulolo (Thelma Buabeng, Ihr Kinderlein kommet) gilt zudem als verschwunden. Bis zu dieser Erkenntnis sieht alles nach einem stinknormalen Beziehungsdrama aus:
Schenk: "Vielleicht lieg' ich mit meinem Arztroman ja doch nicht so ganz falsch."
Der Kommissar scheint mit seinem unverhohlenen Schubladendenken zunächst richtig zu liegen, denn neben Ehefrau Vivien Wangila (Anne Ratte-Polle, Hundstage) hatten wohl auch Kollegin Dr. Sabine Schmuck (Julia Jäger, Heimatfront) und Krankenpflegerin Angelika Meyer (Laura Tonke, Vielleicht) ein Auge auf den ermordeten Arzt geworfen. Mit dem Besuch im Flüchtlingsheim hievt Drehbuchautor Rainer Butt (Im Alleingang) die Geschichte aber auf eine neue Ebene: Schnell wird deutlich, dass der Tote kein unbescholtener Vorzeigemediziner war. Vielmehr schlagen die Filmemacher den Bogen zum Bürgerkrieg im Heimatland des Toten - doch anders als in Manila oder Blutdiamanten dürfen die einstigen Globetrotter Ballauf und Schenk die Domstadt diesmal nicht verlassen. Auch die obligatorische Stippvisite an der Currywurstbude fällt aus (soll aber in Zukunft wieder stattfinden, wie Dietmar Bär uns im Interview verriet). Ansonsten geht alles seinen gewohnten Gang: Eine gute Stunde lang reiht sich in Narben eine "In welchem Verhältnis standen sie zum Toten?"-Befragung an die nächste, ohne dass die Geschichte dabei an Fahrt aufnähme. Überraschungsmomente sind trotz des interessanten Themas Mangelware, vielsagende Blicke hinter den Rücken der Kommissare verraten dem Zuschauer mehr als die Antworten der Verdächtigen, und von den Befragten wird eine Person auffallend ausführlich skizziert - wer nicht zum ersten Mal einen Tatort schaut, dürfte keine große Mühe haben, die Auflösung der klassischen Whodunit-Konstruktion vorherzusagen. Erst auf der Zielgeraden kommt der dialoglastige Krimi auf Touren: Der Showdown wirkt zwar etwas konstruiert, ist aber zumindest spannend in Szene gesetzt. Hier darf sich schließlich auch Psychologin Lydia Rosenberg (Juliane Köhler, Wahre Liebe) aktiv ins Geschehen einschalten, statt wie bei so manchem ihrer bisherigen vier Auftritte im Kölner Tatort nur mit dem ewigen Junggesellen Max Ballauf anzubandeln. Am durchschnittlichen Gesamteindruck ändert das nichts: Nach Benutzt und Kartenhaus bewegt sich der Krimi aus der Domstadt 2016 weiterhin im grauen Mittelmaß.

Bewertung: 5/10

Ein Fuß kommt selten allein

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Folge: 986 | 8. Mai 2016 | Sender: WDR | Regie: Thomas Jauch

So war der Tatort:

Bild: WDR/Martin Menke
Pirouettenreich. Denn Ein Fuß kommt selten allein spielt dort, wo sich offenbar vor allem Staatsanwältin Wilhelmine Klemm (Mechthild Großmann) nach Feierabend gern aufhält: im Tanzverein. Und der Tatort aus Münster wäre nicht der Tatort aus Münster, wenn die Juristin sich für ihr Tango-Training nicht einen ganz besonderen Tanzpartner ausgesucht hätte: Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers), der seiner Assistentin Silke "Alberich" Haller (Christine Urspruch) die jüngst erhaltene Verdienstmedaille des Bundespräsidenten neidet und im Gegenzug auf eine Klemmsche Empfehlung für eben jene Auszeichnung hofft, zeigt bei der gemeinsamen Einlage auf dem Parkett vollen Körpereinsatz. Der Zufall will es, dass Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) im selben Tanzverein ermittelt: Im Wolbecker Wald wurde das Skelett der Moldawierin Elmira Dumbrowa gefunden, die einst zu den besten Tänzerinnen des Clubs zählte. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt wird deutlich, dass Logik und Spannung beim 29. Fall von Thiel und Boerne einmal mehr hinter Dialogwitz und Albernheiten zurückstehen müssen: Hätten die Ermittler den Wald nach dem Fund des Skeletts einfach großräumig abgesucht, statt immer wieder dort hinzufahren und neue Spuren zu entdecken, wäre das zwar deutlich logischer gewesen, hätte die Dramaturgie aber aus den Angeln gehoben. Drehbuchautor Jan Hinter (Erkläre Chimäre), der bereits das zwölfte Drehbuch für einen Tatort aus Münster beisteuert, setzt auf sein bewährtes Erfolgsrezept - und lässt es sich nicht nehmen, einen amüsanten Seitenhieb auf die vielen TV-Kritiker (Wie war der Tatort? eingeschlossen, vgl. Das Wunder von Wolbeck) zu verteilen, die in den letzten Jahren mitunter kein gutes Haar an den massenkompatiblen Folgen aus Westfalen ließen:
Thiel: "Geht's vielleicht auch mit ein bisschen weniger Klamauk?"
Boerne: "Dann müssen Sie sich einen anderen Rechtsmediziner suchen."
Wer auf einen packenden Krimi mit Tiefgang hofft, wird zum wiederholten Male enttäuscht: Knisternde Spannungsmomente oder verblüffende Wendungen sucht man in diesem leichtverdaulichen, thematisch aber durchaus erfrischenden Film vergebens. Erfreulicherweise driftet der 986. Tatort aber selten ganz in den Klamauk ab: Die Mischung aus klassischen Whodunit-Elementen und mal mehr, mal weniger originellem Dialogwitz steht in einem stimmigeren Verhältnis als in manch anderer Folge der jüngeren Vergangenheit (man denke zum Beispiel an die enttäuschende Klamotte Mord ist die beste Medizin). Auch die zweite Meta-Anspielung des Professors trifft ins Schwarze ("Eine DNA-Analyse dauert schon etwas länger als ein Sonntagabendkrimi."), doch an anderer Stelle übertreiben es die Filmemacher: Bei der witzlosen Nebengeschichte um Thiels "Vaddern" Herbert (Claus D. Clausnitzer), der den knochenreichen Wolbecker Wald als ertragreiches Terrain für das Sammeln von Fliegenpilzen ausgemacht hat, kommen wohl nur die eingefleischtesten Fans auf ihre Kosten. Spätestens, als der Alt-Hippie dank der vorprogrammierten Magenverstimmung das eigene Taxi vollkotzt, ist die gesunde Dosis an Albernheiten deutlich überschritten. Schwächeln tut Ein Fuß kommt selten allein auch beim Blick auf die Besetzung: Thomas Heinze wird als aufbrausender Präsident deutlich weniger gefordert als bei seiner letzten Tatort-Rolle in Wer Wind erntet, sät Sturm, andere Nebendarsteller mögen tolle Tänzer sein, sind schauspielerisch aber limitiert. Und nicht nur der strenge und mit einem entscheidenden Handicap ausgestattete Tanztrainer Andreas Roth (Max von Pufendorf, Heimspiel) wirkt überzeichnet. Die Fans von Thiel und Boerne kommen dennoch auf ihre Kosten: Bei der Motorradfahrt mit Nadeshda Krusenstern (Friederike Kempter) schlägt der vielfach tatorterprobte Regisseur Thomas Jauch (Ohnmacht) den Bogen zu Thiels geplatztem Biker-Urlaub in Ruhe sanft, während Boerne die modisch eigenwilligen Gummistiefel trägt, die für den besten Gag in Spargelzeit sorgten. Und dann sind da noch die stimmungsvollen Bilder vom abschließenden Tanzwettbewerb, die den Zuschauer mit einem standesgemäßen Footloose-Ohrwurm in die Nacht entlassen - auch wenn die vielen Statisten im Saal nicht halb so begeistert mitfiebern wie das Publikum in der RTL-Show Let's dance, in der die mehr oder weniger prominenten Hobbytänzer die Halle regelmäßig zum Ausflippen bringen.

Bewertung: 5/10

Der hundertste Affe

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Folge: 987 | 16. Mai 2016 | Sender: Radio Bremen | Regie: Florian Baxmeyer

So war der Tatort:

Bild: Radio Bremen/ARD Degeto
Rasant. Denn in Der hundertste Affe schalten die Filmemacher früh von null auf hundert: Regisseur Florian Baxmeyer (Die Wiederkehr), der bereits zum elften Mal einen Tatort im kleinsten deutschen Bundesland inszeniert, legt ein halsbrecherisches Erzähltempo vor und bricht dabei mit einigen Konventionen der Krimireihe. Die gemütliche Tätersuche fällt aus: Nach einer kurzen Einleitung, in der die Bremer Hauptkommissare Inga Lürsen (Sabine Postel) und Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) vor den Trümmern ihrer Ermittlungen stehen ("Wir haben's verbockt!"), springt die Handlung ein paar Stunden zurück und das Geschehen wird chronologisch aufgerollt - Uhrzeiteinblendungen in bester 24-Manier inklusive. Die jungen Terroristen Luisa (Friederike Becht), Sven (Franz Pätzold, Hydra) und Dabo (Jerry Hoffmann) drohen mit einem Giftanschlag aufs Bremer Trinkwasser, sollten ihre Forderungen nicht erfüllt werden: Wissenschaftler Dr. Urs Render (Manfred Zapatka, Havarie) soll sich öffentlich zu den Machenschaften seines Arbeitgebers bekennen - einem Biotech-Konzern, der ohne Rücksicht auf Mensch und Umwelt Millionen mit genmanipuliertem Saatgut und Pestiziden verdient. Wie schon in Wer Wind erntet, sät Sturm stehen wieder radikale Umweltaktivisten im Blickpunkt dieses Tatorts - und wie schon beim letzten Mal feuern sie auch in Der hundertste Affe aus allen Rohren mit Plattitüden. Die toughe Luisa und der verliebte Sven reiben sich in ermüdenden Streitereien auf, deren Inhalt schon im nächsten Moment wieder vergessen ist - weil sie wie aus dem Baukasten zusammengesetzt klingen und schon in Dutzenden ähnlich gelagerter Filme so oder so ähnlich zu hören waren.
Luisa: "Wir gehen bis zum Ende. Das hast du mir versprochen."
Sven: "Ja, das hab ich. Aber es war nicht vom Töten die Rede."
Die Schnittfrequenz ist atemberaubend, die Bilder oft verwackelt und die Dialoge so schnell aneinandergereiht, dass dem Zuschauer kaum Zeit bleibt, seine Gedanken zu sortieren. Ein probates Mittel zur Erzeugung von Spannung, doch die flotte Inszenierung und das echtzeitnahe Terror-Szenario können nicht über die schablonenhaften Figuren, den mangelnden Tiefgang und die Logiklöcher im Drehbuch von Christian Jeltsch (Hundstage) hinwegtäuschen: Dass in Der hundertste Affe weit über ein Dutzend Menschen sterben, gerät fast zur Randnotiz. Das Schicksal der Opfer lässt einen völlig kalt, weil es nur in Nebensätzen thematisiert wird und ein weiterer Anschlag auf die Hansestadt verhindert werden soll. Wissenschaftler Render und der wichtigtuende Stadtrat Claas Beckmann (Johannes Allmayer, Das erste Opfer) sind wie die Terroristen nur wandelnde Klischees, und der psychisch labile Sven lässt sich nach dem Kapern einer Webcam im Präsidium mit einer simplen Retourkutsche narren, statt seinen Laptop einfach abzuschalten. Deutlich glaubwürdiger gestalten sich die Machtspielchen im Krisenstab unter Leitung von Helmut Lorentz (Barnaby Metschurat, Côte d'Azur), in den neben Lürsen und Stedefreund auch Chefin Helen Reinders (Camilla Renschke) und der Kommissar vom Dienst Joost Brauer (Werner Wölbern, Kollaps) berufen wurden. Und dann ist da ja noch die neue BKA-Kollegin Linda Selb (Luise Wolfram), die Stedefreund in die Horizontale bittet und auch zukünftig in Bremen ermitteln soll: "Ich bin die Beste, wenn man mich in Ruhe lässt", keift sie schon bei der ersten Begegnung und sorgt mit ihren ich-fixierten Methoden fernab des Präsidims (das sie nur im Notfall betritt) für so manchen Lacher. Der amüsante Auftritt der egozentrischen Beamtin, die stark an die schwedische Kommissarin Saga Norén (Sofia Helin) aus der Krimireihe Die Brücke erinnert, ist der Lichtblick in diesem über weite Strecken seelenlosen Hochgeschwindigkeitstatort, dessen dynamische Gangart die dünne Geschichte bei weitem nicht übertünchen kann. Denn spätestens, als die kreischende Luisa beim Showdown drei Dutzend aufgeregte Journalisten mit einer Wassersprinkleranlage in Schach hält, driftet der 987. Tatort (der eigentlich der 1000. ist) sogar noch in die unfreiwillige Komik ab.

Bewertung: 3/10

Das Recht, sich zu sorgen

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Folge: 988 | 22. Mai 2016 | Sender: BR | Regie: Andreas Senn

So war der Tatort:

Bild: BR/Claussen+Putz Filmproduktion GmbH/Hagen Keller
Sorgenvoll. Denn im zweiten Franken-Tatort laufen gleich drei Handlungsstränge parallel, und sie alle sind von Sorge, Einsamkeit und Verzweiflung geprägt: Da ist zum einen die junge Steffi Schwinn (Barbara Prakopenka, Wegwerfmädchen), die im Wirtshaus ihrer Eltern die Leiche ihrer Mutter findet, während Vater Holger (Jörg Witte, Der irre Iwan) mit einer Jagdwaffe in den nahegelegenen Wald flieht. Dann Professorin Magdalena Mittlich (Sibylle Canonica, Château Mort), die sich um den guten Ruf des Anatomischen Instituts der Universität Würzburg sorgt: Ein junger Doktorand hat einen Schädel entdeckt, der nicht zum restlichen Skelett passt und nicht in den Leichenpapieren vermerkt ist. Und schließlich die ältere Dame Lydia Eichbaum (Tessie Tellmann), die vorm Nürnberger Präsidium aus Protest ein Zelt aufschlägt: Sie will sich nicht damit abfinden, dass die Polizei ihren verschwundenen Sohn nicht suchen will. Viel Arbeit für die Hauptkommissare Paula Ringelhahn (Dagmar Manzel) und Felix Voss (Fabian Hinrichs), die Kommissare Wanda Goldwasser (Eli Wasserscheid) und Sebastian Fleischer (Andreas Leopold Schadt) sowie Spurensicherungsleiter Michael Schatz (Matthias Egersdörfer): Drehbuchautorin Beate Langmaack quetscht die drei Geschichten in ihr erstes Tatort-Skript, führt sie am Ende aber nicht zusammen. Das birgt einen großen Nachteil: Das Geschehen vorm Präsidium bleibt in Sachen Tiefgang auf der Strecke und die zahlreichen Nebenfiguren nehmen sich gegenseitig den Raum zur Entfaltung. Das gilt aber auch für die Kommissare: Während Goldwasser nach Feierabend mit Doktorand Philip (Nils Strunk) auf Tuchfühlung gehen darf, gibt Kollege Fleischer in Das Recht, sich zu sorgen kaum mehr als drei, vier witzlose Bemerkungen von sich.
Fleischer: "Vielleicht isser ja bloß net doa, sitzt ahnungslos auf seinem Hochsitz. Er is schließlich Jeejer. I bin ja au so e Jeejer, ne.“
Dass der zweite "Frangn-Dadord" nicht ganz an den Vorgänger Der Himmel ist ein Platz auf Erden heranreicht, hat aber auch andere Gründe: So geschickt die drei Handlungsstränge durch die Gefühlswelt ihrer Protagonisten motivisch miteinander verknüpft sind, so sehr fehlt es dem 988. Tatort an raffinierten Wendungen und Spannungsmomenten. Als kniffliger Whodunit zum Miträtseln eignet sich Das Recht, sich zu sorgen ebenfalls nur bedingt: Wer die Gastwirtin auf dem Gewissen hat, klärt sich dank einer Überwachungskamera nach einer halben Stunde, dem Fall der alten Dame hingegen fehlt es komplett an Hintergründen. Außer Ringelhahn interessiert sich ohnehin niemand für die sture Lydia Eichbaum, obwohl der Krimi ihrem Schicksal seinen kryptischen Titel verdankt – und wenn die vielbeschäftige Hauptkommissarin sich bei Polizeipräsident Dr. Mirko Kaiser (Stefan Merki) über die hohe Arbeitsauslastung beschwert („Wir haben einen mutmaßlichen Mörder, der hockt in irgendeinem Wald, und wir sollen uns vier Jahre alte Knochen angucken?“), Eichbaum aber direkt im Anschluss zum gemütlichen Kaffeekränzchen bittet, wirkt das inkonsequent und wenig durchdacht. Die reizvollste Geschichte ist die vom geheimnisvollen Schädel im Institut, bei der der Zuschauer nebenbei spannende Fakten über die Anatomie des Menschen erfährt - leider platzieren die Filmemacher hier aber mehrere überdeutliche Hinweise auf die spektakuläre Leichenbeseitigung, so dass die richtige Auflösung am Ende nur Formsache ist. Auch das vielbeschworene Lokalkolorit ist weit weniger ausgeprägt, als man erwarten sollte: Außer einer kurzen Sequenz auf der Würzburger Festung und einigen Panorama-Aufnahmen gibt es nur wenig von Stadt und Leuten zu entdecken, weil viel am Waldrand und im Anatomischen Institut gedreht wurde. Rein handwerklich kann sich der 988. Tatort allerdings sehen lassen: Regisseur Andreas Senn (Das verkaufte Lächeln) und Kameramann Holly Fink (Der Fall Reinhardt) tauchen den melancholisch angehauchten Krimi in stimmungsvolle Bilder, wie sie bereits den ersten Franken-Tatort auszeichneten.

Bewertung: 5/10

Wir - Ihr - Sie

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Folge: 989 | 5. Juni 2016 | Sender: rbb | Regie: Torsten C. Fischer

So war der Tatort:

Bild: rbb/Frédéric Batier
Explizit. Denn so ausführlich von der Kamera eingefangener Schwulen-Sex sucht in der fünfundvierzigjährigen Tatort-Geschichte seinesgleichen: Der Berliner Hauptkommissar Robert Karow (Mark Waschke) hat in seiner Wohnung eine Kamera installiert, und die hat nicht nur die heiße Nummer mit einer Bar-Bekanntschaft dokumentiert, sondern auch ein weiteres Detail - die Waffe, die im Tatort Ätzend zu seiner Verhaftung führte, wurde ihm nach dem Sex untergejubelt. Alles beim Alten also im Krimi aus der Hauptstadt: Karow erscheint in Wir - Ihr - Sie im Präsidium und muss zunächst den Hohn und Spott der Kollegen über sich ergehen lassen, weil Assistent Mark Steinke (Tim Kalkhof) ein Video seiner nächtlichen Nackt-Aktivitäten ins Netz gestellt hat. Kollegin Nina Rubin (Meret Becker) und Hospitantin Anna Feil (Carolyn Genzkow) sehen die Sache locker, während sich Karow mit einer köstlichen Retourkutsche bei Steinke revanchiert und damit für einen Lacher zum Auftakt sorgt. Ansonsten setzt sich fort, was in Berlin bereits zum Markenzeichen wurde: Neben dem neuen Mordfall - eine Frau wurde im Parkhaus der Shopping Arkaden am Potsdamer Platz totgefahren - wird auch die Geschichte um Karows erschossenen Ex-Partner Maihack weitergeführt. Wer die ersten beiden Folgen verpasst hat oder sich nur ungenau erinnert, kann der Nebenhandlung trotzdem mühelos folgen: Wie schon in Ätzend fasst ein einleitender Rückblick alles Wichtige zusammen. Auch für Rubins zerrüttetes Familienleben nehmen sich die Filmemacher viel Zeit, wodurch die Tote im Parkhaus gelegentlich aus dem Blickfeld gerät - was aber zu verschmerzen ist, denn die üblichen "Hatte Ihre Frau Feinde?"-Dialoge sind nach einer halben Stunde abgefrühstückt und die Handlung entwickelt sich in eine andere Richtung.

Drehbuchautorin Dagmar Gabler (Schlafende Hunde) setzt nur einleitend auf die typischen Versatzstücke eines Whodunit: Schnell wird klar, dass Fahrzeughalterin Birgit Hahne (Valerie Koch, Hydra) als Täterin ausscheidet, obwohl die Geliebte von Carsten Werner (Steffen Münster, Das Haus am Ende der Straße), dem Mann der Toten, ein Motiv hätte. Ins Visier der Ermittler geraten vielmehr die egozentrische Louisa Müller (Cosima Henman), die introvertierte Charlotte Buske (Valeria Eisenbart) und die aufmüpfige Paula Zink (Emma Drogunova), die sich zur Tatzeit im Shopping-Center aufgehalten und den Jeep gekapert haben: Wie schon im starken Berliner TatortGegen den Kopf steht die spannende Frage im Mittelpunkt, ob es den Ermittlern am Ende gelingt, den aufmüpfigen Teenagern das Handwerk zu legen. Und anders als im ähnlich gelagerten, aber oft überschätzten Kölner Tatort Ohnmachtgestaltet sich das Gebahren der rotzfrechen Schülerinnen authentisch - was neben den bissigen Dialogen auch an den überzeugenden Jungdarstellerinnen liegt, deren Fäkalsprache und offene Rebellion gegen die elterliche und polizeiliche Autorität nie gekünstelt wirkt. War Das Muli, der erste Fall mit Becker und Waschke, noch eine knallharte Studie des Berliner Drogenmilieus, arbeiten die Filmemacher um Regisseur Torsten C. Fischer (Narben) in diesem disharmonischen, oft düsteren Krimi gekonnt die soziale Isolation und den erschreckenden Empathiemangel der jungen Frauen heraus, die in den bunten Scheinwelten von Facebook und Instagram zu Hause sind und für die eine Welt zusammenbricht, wenn Papa Thorwald Müller (Thomas Heinze, Der hundertste Affe) mal für einen Abend das Smartphone einkassiert. Erst am Ende, als das verschworene Trio auseinander bricht und sich gegenseitig aus Freundeslisten löscht, tragen die Filmemacher deutlich zu dick auf. Auch über Ben Werner (Béla Lenz), den Sohn des Opfers, erfähren wir wenig. Trotzdem ist die Botschaft eindeutig, denn es gibt unter dem Strich nur Verlierer: Die Eltern, die den Draht zu ihren Kindern verloren haben, die Schülerinnen, deren Realität sich ins Netz verlagert hat, und auch die Kommissare, deren Vertrauen zueinander spätestens in der Schlussminute erschüttert wird. Allen kollegialen Annäherungsversuchen zum Trotz.
Karow: "Wir sollten uns duzen. Ich bin Robert."
Bewertung: 7/10

Durchgedreht

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Folge: 990 | 21. August 2016 | Sender: WDR | Regie: Dagmar Seume

So war der Tatort:

Bild: WDR/Martin Valentin Menke
Abfällig. Dass es Rechtsanwälte, Journalisten und Politiker bei den Drehbuchautoren der Krimireihe schwer haben, ist hinlänglich bekannt - man denke nur an den Kölner Tatort Ohnmacht oder die Folge Roomservice aus Ludwigshafen. In Durchgedreht bekommt mit den LKW-Fahrern eine weitere Berufsgruppe ihr Fett weg, und das ausgerechnet durch Publikumsliebling Freddy Schenk (Dietmar Bär): "Zehn Minuten linke Spur, und schon gleichauf", ätzt der Kölner Hauptkommissar bei der Befragung des von mangelndem Selbstwertgefühl zerfressenen Brummifahrers Gunnar Schwalb (Stephan Szász, Borowski und der vierte Mann) - er hat offenbar wenig für Trucker übrig. Mit dem arroganten Schreiberling Ole Winthir (Peter Benedict, Hinter dem Spiegel) gibt es auch wieder einen unsympathischen Journalisten im Figurenensemble, der sogar zum Kreis der Tatverdächtigen zählt: Einleitend wird der Zuschauer Zeuge eines grausamen Doppelmordes, den die achtjährige Anna (Julie-Helena Sapina) im Gegensatz zu ihrer Mutter Freya Rödiger (Andrea Kratz) und ihrem kleinen Bruder überlebt. Eine nächtliche Rachetat, weil Rödigers über Nacht abwesender Lebensgefährte Sven Habdank (Alexander Beyer, Verfolgt) sich bei seiner Arbeit als Steuerprüfer einen Feind zuviel gemacht hat? Ins Visier von Familienmensch Schenk und Junggeselle Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) gerät auch Bauunternehmer Pit Benteler (Max Herbrechter, Pauline), dessen Schicksal allerdings früh zu erahnen ist und erfahrene Krimi-Zuschauer kaum von der richtigen Auflösung abbringen dürfte. Anders als Journalist Winthir erhält Benteler als Figur auch keinen nennenswerten Tiefgang: Die Charakterzeichnung fällt genauso oberflächlich aus wie das Kölsche Gemecker über das deutsche Steuersystem, das im gewohnt sozialkritischen Tatort aus der Domstadt natürlich nicht fehlen darf.
Ballauf: "Wenn ich mir angucke, was von meinem Bruttogehalt überbleibt..."
Regisseurin Dagmar Seume (Benutzt) und Drehbuchautor Norbert Ehry (Dicker als Wasser) erzählen einen mit melodramatischen Elementen angereicherten, klassischen Whodunit, der von Minute 1 bis 88 in geordneten Bahnen verläuft. Ihr Film fühlt sich oft an wie ein Familiendrama, weil manches hinter dem Rücken der Kommissare abläuft und die emotionalen Reizpunkte in der Verwandtschaft der Toten liegen: Während Habdanks Bruder Michael (Christian Erdmann) ein Verhältnis zur Ermordeten nachgesagt wird, lodert im Hause Schwalb der unterschwellige Sozialneid. Fragen gibt es unter dem Strich nur zwei zu beantworten: Wer ist hier Durchgedreht - und warum? Der Weg zur Antwort führt über endlose Aneinanderreihungen von Dialogen, die den 990. Tatort nach dem beklemmenden Auftakt im Elternhaus der kleinen Anna direkt in ein einstündiges Spannungsloch stürzen lassen. Die ermüdenden Allgemeinplätze zum deutschen Steuersystem drosseln die Dynamik zusätzlich, während andere Sequenzen wie Fremdkörper wirken: Assistent Tobias Reisser (Patrick Abozen) wird in seinem Büro dabei ertappt, wie er im Asservatenverzeichnis einen schwarzen Dildo angeklickt hat, steht aber deutlich weniger im Blickpunkt als wenige Monate zuvor in der Bonnie-und-Clyde-Abwandlung Kartenhaus. Dass Durchgedreht unter dem Strich dennoch ein sehenswertes Krimidrama ist, liegt neben der handwerklich soliden Umsetzung am emotionalen Showdown: Als die Katze aus dem Sack und die Täterfrage geklärt ist, ziehen die Filmemacher die Spannungsschraube spürbar an, so dass das dramatische Ende ein Stück weit für die Längen im dialoglastigen Mittelteil entschädigt. Da darf die obligatorische Verfolgungsjagd nicht fehlen, die allerdings über wenig aufregende Landstraßen und nicht etwa durch die vielbefahrene Kölner City führt. Apropos Innenstadt: Nach monatelanger Abstinenz gibt es endlich ein Wiedersehen mit der kultigen Wurstbraterei am Rheinufer, die die Kommissare baustellenbedingt schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr aufsuchen durften, wie uns Schauspieler Dietmar Bär im Interview verriet.

Bewertung: 5/10

HAL

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Folge: 991 | 28. August 2016 | Sender: SWR | Regie: Niki Stein

So war der Tatort:

Bild: SWR
Gespickt mit Anspielungen auf Stanley Kubricks wegweisendes Science-Fiction-Meisterwerk 2001: Odyssee im Weltraum - und auch sonst so futuristisch wie bis dato kaum ein zweiter Tatort in der Geschichte der Krimireihe. Schon der Eingangssteg zur Zentrale der IT-Firma Bluesky, die beim 19. Fall der Stuttgarter Hauptkommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) den Dreh- und Angelpunkt des Geschehens bildet, mutet an wie der eines UFOs - und auch die sterilen Büroräume erhalten durch das konsequent in weiß, rot und blau gehaltene Interieur und die vielen Flachbildschirme einen fast raumschiffähnlichen Charakter. Das kommt nicht von ungefähr: Der Krimititel HAL spielt auf den berühmten Bordcomputer HAL 9000 an, der sich in Kubricks Film über die Befehle seiner Schöpfer hinwegsetzt - und das tut in diesem Tatort bald auch das Bluesky-System. Entwickler David Bogmann (Ken Duken, Der Weg ins Paradies) und Geschäftsführerin Mea Welsch (Karoline Eichhorn, Die Feigheit des Löwen) haben ein selbstlernendes Programm entwickelt, das Big Data sammelt und für verschiedenste Zwecke ausschlachtet - doch spätestens, als Bogmann vergeblich versucht, einen fehlerhaften Character des Systems zu löschen, nimmt der schon oft erzählte Kampf zwischen Mensch und Maschine an Fahrt auf. Selbst die Stuttgarter Ermittler werden in bester Terminator-Manier gescannt und zu gläsernen Persönlichkeiten - dabei wollen sie nicht Big Brother spielen, sondern den Mord an Callgirl Elena Stemmle (Sophie Pfennigstorf) aufklären, die als Probandin für Bluesky gearbeitet hat. Vor allem Offline-Verfechter Lannert findet die totale Durchleuchtung überhaupt nicht komisch - hat er doch nicht mal Lust, sich im Web 2.0 mit schwäbischen Digital Natives zu vernetzen.
Lannert: "Ich brauch keine Freunde!"
Regisseur und Drehbuchautor Niki Stein (Der Inder) teilt den 991. Tatort mit Zwischentiteln, die nach Werken Franz Kafkas benannt sind, in vier Abschnitte und greift zahlreiche Motive aus dem eingangs erwähnten Film in seinem fesselnden Überwachungsszenario auf: Kenner des Kubrick-Klassikers wird der einleitende Zeitlupen-Astwurf des kleinen Mädchens ebenso bekannt vorkommen wie die "Hänschen klein"-Melodie, die der schwächelnde HAL 9000 in der deutschen Fassung des Sci-Fi-Meilensteins zum Besten gibt. An der Komplexität der Handlung dürften sich bei diesem Tatort vor allem technisch weniger versierte Zuschauer stören, wenngleich die Kommissare das ältere Publikum souverän durchs digitale Neuland navigieren und technische Fachbegriffe gekonnt im Vorbeigehen erklären, statt den Erzählfluss mit pädagogisch wertvollen Erläuterungen zu stören. Wer Spaß an wendungsreichen Science-Fiction-Thrillern hat, kommt bei diesem mutigen und modernen Tatort voll auf seine Kosten, denn ähnlich wie im Blockbuster Minority Report kann Bluesky sogar Verbrechen im Voraus prognostizieren: Nicht nur ein spannender Aspekt für einen Krimi, sondern zugleich ein brandaktuelles Thema - man denke an die kontroverse Debatte um die Vorratsdatenspeicherung oder die Überwachung von Mobiltelefonen. Stein legt den Finger auf den Puls der Zeit und verteilt in Person der tangotanzenden Staatsanwältin Emilia Alvarez (Carolina Vera) Seitenhiebe auf Google, Facebook & Co., denkt den Status Quo aber einen Schritt weiter: Was passiert, wenn wir unserer Technik nicht mehr trauen können? Die Konsequenzen im Film sind dramatisch, die Vorstellung zutiefst beunruhigend, und HAL wird nicht erst nach dem genialen Twist im Schlussdrittel zum spannenden Vergnügen. Figuren wie den warnenden Wissenschaftler (hier: Bogmann) oder die profitorientierte Vorgesetzte (hier: Welsch) durften wir im Hollywood-Kino zwar schon häufig erleben, doch tut das der tollen Unterhaltung keinen Abbruch. Bei der etwas hastig vorgetragenen Auflösung muss der Zuschauer aber ein Auge zudrücken: Einmal mehr führt ein Smartphone-Video (vgl. Eine andere Welt, Du gehörst mir) auf die Spur des Täters, das den Tathergang ein bisschen ausführlicher dokumentiert, als es der Glaubwürdigkeit gut tut.

Bewertung: 8/10


Die Kunst des Krieges

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Folge: 992 | 4. September 2016 | Sender: ORF | Regie: Thomas Roth

So war der Tatort:

Bild: ARD Degeto/ORF/Superfilm/Klaus Pichler
Terrierfreundlich. Chefinspektor Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) hat es in diesem Wiener Tatort nicht leicht: Seine Tochter Claudia (Tanja Raunig) zieht mit ihrem muslimischen Freund in eine neue Wohnung und Kollegin Bibi Fellner (Adele Neuhauser) quartiert heimlich die tatverdächtige Victoria Oshchypko (Janina Rudenska) bei sich ein - doch da ist ja zum Glück noch Parson Russell Terrier Percy, der Fellner nach dem Fund eines brutal ermordeten Geschäftsmannes unverhofft nachläuft und schon bald in Eisner sein neues Herrchen sieht. Der findet das zwar zunächst überhaupt nicht komisch, irgendwann aber doch Gefallen an seinem neuen Mitbewohner und der tierischen Gesellschaft nach Feierabend. Ähnlich wie in den Münchner Tatort-Folgen mit Melchior Veigl (Gustl Bayrhammer) oder den Bremer Tatort-Folgen mit Inga Lürsen (Sabine Postel) sorgen die Hundeszenen aber nicht für öffentlich-rechtlichen Polizei-Kitsch á la Da kommt Kalle, sondern für wohldosierte Entschleunigungsmomente in einem unterhaltsamen, wenn auch stellenweise brutalen Kiezkrimi. Einmal mehr schickt der ORF seine Ermittler dahin, wo's weh tut: ins Milieu des organisierten Verbrechens, das Fellner noch bestens aus ihrer Zeit bei der "Sitte" kennt und in dem keine Gefangenen gemacht werden. Trotz des gewohnten Whodunit-Konstrukts wird schnell klar, dass nur der feindselige Restaurantbesitzer Ramazan Tagaev (Daniel Wagner) oder der großkotzige Zuhälter Andy Mittermeier (famos: Michael Fuith, Grenzfall) als (Auftrags-)Mörder infrage kommen: Die Auflösung ist in Die Kunst des Krieges zweitrangig, wenngleich Sektionschef Ernst Rauter (Hubert Kramar) natürlich das Gegenteil behauptet.
Rauter: "Und am Ende finden wir raus, wer den Türken umgebracht hat. Das wär' nämlich schon auch wichtig."
Wie viele österreichische Tatort-Macher vor ihm stellt Regisseur und Drehbuchautor Thomas Roth (Deckname Kidon) den Toten einleitend förmlich zur Schau: Wurde in Sternschnuppe der Jurychef einer Castingshow in seiner Dusche stranguliert, gab in Falsch verpackt der zur Eisleiche erstarrte Martin Brambach (später als Kommissariatsleiter Peter Michael Schnabel im Tatort aus Dresden zu sehen) den Ermittlern Rätsel auf. Diesmal steckt das Opfer mit dem Kopf in einer Kommode - brutal abgeschlachtet und mit einem elektrischen Dönermesser um wichtige Körperteile erleichtert. Die obligatorische zweite Leiche hängt in bester Hannibal-Manier publikumswirksam in luftiger Höhe - es bleibt nicht der letzte Todesfall in einem Krimi, der sich auf der Zielgeraden zum actiongeladenen Thriller wandelt. Hier wird der Bogen allerdings deutlich überspannt: Der überzeichnete Auftritt der ganz in schwarz gekleideten Killerin "Asia" (Puti Pendekar Kaisar), die gut in einen Martial-Arts-Streifen oder James-Bond-Film gepasst hätte, leitet einen fast absurden Showdown ein, bei dem so ziemlich jede Bewegung in Zeitlupe eingefangen wird. Hier entfernt sich der 992. Tatort ohne Not von seinen Wurzeln und ist nah dran an den umstrittenen Hamburger Beiträgen mit Nick Tschiller (Til Schweiger) und Yalcin Gümer (Fahri Yardim), bei denen fast ausschließlich die Action im Vordergrund steht. Die wummernden Beats, die ein wenig zu häufig zum Einsatz kommen, verstärken den Over-The-Top-Eindruck, doch es überwiegen die positiven Aspekte: Die zuletzt drei Mal in Folge nur bedingt überzeugenden Eisner und Fellner harmonieren bei ihren amüsanten Kabbeleien wieder prächtig, wenngleich ihr Wiener Schmäh und die mangelhafte Tonabmischung des Films wohl wieder so manchen Zuschauer auf die Palme bringen werden. Das Einschalten lohnt sich aber allein schon wegen des charismatischen Antagonisten: Der in Waschbärpelz gekleidete, glatzköpfige Lude Mittermeier bedient zwar alle Klischees, schreckt bei seiner titelgebenden Kunst des Krieges aber vor nichts zurück, um seine Schäfchen ins Trockene zu bringen. Für den Spannungsbogen erweist sich das als effektiv: Im Rahmen einer hochspannenden Sequenz im Restaurant wird Eisner nach seinem unpraktischen Gipsbein in Lohn der Arbeit, seiner heftigen Grippe in Kein Entkommen und seiner retrograden Amnesie in Unvergessengesundheitlich einmal mehr arg in Mitleidenschaft gezogen, so dass das Publikum nach Herzenslust um den Ermittler bangen darf.

Bewertung: 6/10

Freitod

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Folge: 993 | 18. September 2016 | Sender: SRF | Regie: Sabine Boss

So war der Tatort:

Bild: ARD Degeto/SRF/Daniel Winkler
Sterbebegleitend. Schon bei der ersten Begegnung mit Dr. Hermann (Andreas Matti, Wunschdenken), dem Leiter der Sterbehilfe-Organisation "Transitus", lernen die Luzerner Ermittler das korrekte Vokabular: Sterbebegleitung ist nicht dasselbe wie Sterbehilfe, weil der oder die Sterbende den Giftcocktail selbst einnehmen muss. Nicht zum ersten Mal wird dieses gesellschaftliche Reizthema - man denke an den brillanten Münchner Tatort Außer Gefecht oder den überschätzten Ludwigshafener Beitrag Der glückliche Tod - in der Krimireihe aufgegriffen, doch allzu ausufernde Debatten bleiben dem Zuschauer in Freitod erspart: Die Drehbuchautorinnen Josy Meier und Eveline Stähelin streuen zwar einige Allgemeinplätze zum Für und Wider dieser Praxis in die Breite, tragen die Diskussion aber nicht auf dem Rücken von Reto Flückiger (Stefan Gubser) und Liz Ritschard (Delia Mayer) aus, die bei den Ermittlungen erwartungsgemäß zwischen die Fronten der Befürworter und Gegner geraten. Eine Diskussion im Auto, die im gesellschaftskritischen Tatort aus Köln wohl in eine minutenlange Kontroverse ausgeartet wäre, würgt Flückiger charmant ab, denn er ist mit seinen Gedanken bei seiner Flamme Evelyn, die der Zuschauer weiterhin nicht zu Gesicht bekommt. Deutlich packender als die bemühte SMS-Liaison, die offenbar der Charakterzeichnung dienen soll, gestaltet sich die Inszenierung des Mordfalls: Nachdem die von schlimmen Schmerzen gepeinigte Gisela Aichinger (Barbara-Magdalena Ahren, Frau Bu lacht) die Sterbebegleitung von Transitus in Anspruch nimmt und friedlich einschläft, wird ihre Sterbebegleiterin Helen Mathys (Ruth Schwegler, Zwischen zwei Welten) brutal mit einer Plastiktüte erstickt - eine starke Szene, bei der der Zuschauer förmlich mitröchelt. Als Hauptverdächtiger drängt sich Aichingers obdachloser Sohn Martin (Martin Butzke, Waffenschwestern) auf, der den gegen die Sterbebegleitung protestierenden Mitgliedern der christlichen Vereinigung Pro Vita schon bei seinem ersten Auftritt eindrucksvoll klar macht, dass er nicht mehr alle Nadeln auf der Tanne hat.
Aichinger: "Büßen! Ihr werdet büßen! Blut! Frösche! Vieh- und Menschenpest!"
Würde das Androhen der zehn biblischen Plagen in einem Tatort aus Münster oder Weimar vielleicht zum Schmunzeln animieren, ist Aichingers irritierender Auftritt in diesem Krimi todernst gemeint: Die Filmemacher haben mit dem cholerischen Hauptverdächtigen eine überaus anstrengende Figur geschaffen, zu der der Zuschauer kaum Zugang finden kann und die angesichts ihrer Krankheit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Täter ausscheidet. Dennoch wird Aichingers Streifzug hinter dem Rücken der Kommissare ausführlich dokumentiert - eine Rechnung, die zu keinem Zeitpunkt aufgeht. Dem cholerischen Plastikbeutelträger ("Mama wollte lebenslänglich leben!") mangelt es vor allem an einer Vorgeschichte, die seinen sozialen Abstieg greifbar macht. Etwas Gutes haben seine wirren Schimpftiraden aber doch: Angesichts der lautstarken und unfreiwillig amüsanten Aggressionen dürfte so mancher eingenickte Zuschauer wieder aufschrecken. Freitod steht nämlich über weite Strecken exemplarisch für die enttäuschenden Luzerner Folgen der letzten Jahre: Die Ermittlungsarbeit wirkt so hölzern wie in keiner zweiten Tatort-Stadt, und den Kommissaren ist die Dynamik nach dem starken Ihr werdet gerichtet endgültig wieder abhanden gekommen. Die 993. Tatort-Ausgabe plätschert lange behäbig vor sich hin, und auch der Mini-Flirt von Praktikant Vikinesh Jeyanantham (Kay Kysela, in Kleine Prinzen noch in einer anderen Rolle zu sehen) und Gerichtsmedizinerin Corinna Haas (Fabienne Hadorn) verpufft als müde Randnotiz. Zumindest der von Regisseurin Sabine Boss (Hanglage mit Aussicht) spannend inszenierte Showdown entschädigt für die vorherigen Längen, und auch die Auflösung ist kein Kinderspiel: Mit den ehrenamtlichen Transitus-Mitarbeitern Jonas Sauber (Sebastian Krähenbühl, Zwischen zwei Welten) und Nadine Camenisch (Anna Schinz, bis Geburtstagskind in Luzern viermal in einer Nebenrolle als Brigit Bürki zu sehen), dem auf eine Organspende wartenden Dialysepatienten Mike Zumbrunn (Lukas Kubik) und dem aalglatten Pro Vita-Chef Josef Thommen (Martin Rapold, Der Polizistinnenmörder) gibt es schließlich gleich vier erstzunehmende Verdächtige.

Bewertung: 4/10

Feierstunde

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Folge: 994 | 25. September 2016 | Sender: WDR | Regie: Lars Jessen

So war der Tatort:

Bild: WDR/Wolfgang Ennenbach
Klamaukfrei. Bei den TV-Kritikern hatte es der Tatort aus Münster, der in der Publikumsgunst konkurrenzlos an der Spitze der Krimireihe liegt, in den vergangenen Jahren nicht leicht: Peinlichen Klamotten wie Das Wunder von Wolbeck folgten zwar auch geglücktere Krimikomödien wie Schwanensee, doch wenn es wie in Die chinesische Prinzessin mal ernster wurde, offenbarten die Drehbücher erhebliche Schwächen. Beim 30. Einsatz von Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) und Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) geht es ähnlich witzlos zu, denn Drehbuchautorin Elke Schuch (Borowski und die heile Welt) verzichtet in Feierstunde auf Klamauk und Slapstick und lässt die Zuschauer stattdessen um Boernes Überleben zittern. Schon nach zwei Minuten brennen Harald Götz (Peter Jordan, mimte von 2008 bis 2012 Cenk Batu-Chef Uwe Kohnau im Hamburger Tatort), der bei einem Fördermittelentscheid in Millionenhöhe das Nachsehen gegenüber Boerne hat, die Sicherungen durch. Der verbitterte Juniorprofessor, dessen ALS-kranke Frau sich mit einer im Internet (!) bestellten Pumpgun (!!) das Gesicht weggeblasen hat, streckt den Forensiker auf dessen eigener Dankesrede mit zwei Schüssen in Brust und Bauch nieder. Hoppla! Wer sich auf eine seichte Schmunzelkomödie im Stile von Mord ist die beste Medizin oder Erkläre Chimäre gefreut hat, dürfte früh die Lust am 994. Tatort verlieren, denn auch im weiteren Verlauf wird das Nervenkostüm des Publikums nicht geschont: Die brutale Auftaktsequenz entpuppt sich zwar als blutige Rachephantasie, doch als Boerne später mit zwei Dutzend geladenen Gästen - unter ihnen Assistentin Silke "Alberich" Haller (Christine Urspruch) - in einer Gaststätte feiern will, sprengt der psychopathische Götz die Feierstunde. Dass das übel enden könnte, weiß auch die undurchsichtige Psychologin Dr. Corinna Adam (Oda Thormeyer, Puppenspieler), die Thiel derweil zum Abendessen begleitet und ihr Wissen gerne mit dem Ermittler teilt.
Adam: "Macht- und Führungspositionen werden überdurchschnittlich oft von Narzissten und Psychopathen eingenommen."
Ähnlich wie im miserablen Bremer Tatort Hochzeitsnacht entspinnen die Filmemacher ein emotionales Kammerspiel in einer abgeriegelten Gaststätte, gehen aber noch einen Schritt weiter: Boerne wird von Götz mit einer Substanz vergiftet, die die Symptome von ALS simuliert - und je länger die Geiselnahme dauert, desto schlechter ist es um den eitlen Forensiker bestellt. Wenngleich sich Götz nun wahrlich nicht als Kellner auf die Party hätte schleichen müssen und das ohnehin konstruiert wirkende Tatmotiv nicht konsequent durchgezogen wird, beginnt damit ein reizvoller Wettlauf gegen die Zeit, wie es ihn in Münster lange nicht mehr gab. Zeit für den einen oder anderen Gag bleibt natürlich trotzdem: Dank seiner gelähmten Zunge kann sich Boerne von Minute zu Minute schlechter artikulieren - Jan Josef Liefers hat sichtlich Spaß an diesem Handicap und sorgt mit seinem Gelalle für kleinere Lacher. Den ernsthaften Anspruch verliert der Tatort allerdings nicht: Deutlich negativer ins Gewicht fallen die dicken Logiklöcher, allen voran die Tatsache, dass Götz sich immer wieder Auszeiten gönnt, in denen Boerne und Haller unbeobachtet tun und lassen können, was sie wollen. Peter Jordan (Verbrannt) trägt mit seinem engagierten Over-Acting ebenfalls nicht zur Glaubwürdigkeit bei, und eine späte Wendung, die die Dinge abschließend in ein anderes Licht rückt, wirkt eher überambitioniert, als dass sie für Verblüffung sorgen würde. Dennoch ist der von Regisseur Lars Jessen (Borowski und die einsamen Herzen) souverän in Szene gesetzte Jubiläumskrimi einer der besseren mit Thiel und Boerne, weil die Spannungskurve nie in den Keller sackt und die Ermittler sich auf die Arbeit konzentrieren, statt platte Pointen durchzukauen: Der von Rückenschmerzen geplagte Thiel gerät mit dem humorlosen SEK-Leiter Lohbach (Andreas Grötzinger, Tödlicher Einsatz) aneinander, während "Alberich" von einer noblen Geste ihres egozentrischen Chefs erfährt und ihm tapfer das Händchen hält. Auch Staatsanwältin Wilhelmine Klemm (Mechthild Großmann) und Nadeshda Krusenstern (Friederike Kempter) zeigen sich so aktiv wie selten - Herbert "Vaddern" Thiel (Claus D. Clausnitzer) hingegen wird einmal mehr mit der Brechstange in den Plot gequetscht und bestätigt damit erneut seinen Status als fleischgewordener Running Gag, der schon seit Jahren nicht mehr witzig ist.

Bewertung: 6/10

Der König der Gosse

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Folge: 995 | 2. Oktober 2016 | Sender: MDR | Regie: Dror Zahavi

So war der Tatort:

Bild: MDR/Gordon Mühle
Mohrlos - aber deswegen noch lange nicht humorlos. Das vorab geheim gehaltene Ableben von Polizeianwärterin Maria Magdalena Mohr (Jella Haase) war sicherlich der bemerkenswerteste Moment im Dresdner Tatort Auf einen Schlag, in dem die Hauptkommissarinnen Karin Gorniak (Karin Hanczewski) und Henni Sieland (Alwara Höfels) ihren Einstand feierten - doch trotz dieser überraschenden Wendung, die nur die BILD-Zeitung vorab gespoilert hatte, fiel das neue Team bei großen Teilen des Publikums durch. Zu albern war vielen der im Schlagermilieu spielende Krimi, zu zickig das Auftreten der emanzipierten Ermittlerinnen - und so war es vor allem dem anBernd Stromberg angelehnten Ekel-Chef Peter Michael Schnabel (Martin Brambach) zu verdanken, dass Auf einen Schlag bei weitem nicht zu dem Desaster wurde, zu dem es viele Zuschauer schlechtredeten. Auch in Der König der Gosse, bei dem erneut die Stromberg-Autoren Ralf Husmann und Mika Kallwass am Ruder sitzen, ist Schnabel der Lichtblick: Statt von der kessen Mohr aus der Reserve gelockt zu werden, bandelt der Kommissariatsleiter, der seinen Kaffee am liebsten aus einer "Schnabel-Tasse" trinkt, mit der biederen Kollegin Wiebke Lohkamp (Jule Böwe, Eine andere Welt) vom Betrugsdezernat an. Die ohnehin schon flache Spannungskurve stürzt bei diesen amüsanten Handlungsschlenkern naturgemäß in den Keller - doch weil Schnabel außerdem darauf besteht, dass "die Wiebke" den Kommissarinnen unter die Arme greift, geht es zumindest im Ermittlerteam wieder heiß her, und Spaß macht das Ganze auch. Überhaupt mangelt es dem Krimi nicht an humorvollen Dialogen und pfiffigen One-Linern - man denke nur an den Besuch der Kommissarinnen in einem italienischen Nobelrestaurant, in dem Gorniak fix das versäumte Abendessen nachholt.
Gorniak: "Hier gibt's 'n gemischten Salat für 11 Euro. Womit ist der gemischt? Mit 8 Euro?"
Dass sich Gorniak und Sieland überhaupt in das Restaurant verirren, liegt am Lebenswandel des Mordopfers: Der später ermordete Sozialunternehmer Hans-Martin Taubert (Michael Sideris, Heimspiel) ließ sich von den drei Obdachlosen Hansi (Arved Birnbaum, Hochzeitsnacht), Platte (David Bredin, Preis des Lebens) und Eumel (Alexander Hörbe, Kalte Wut) zum Italiener begleiten, doch die Minuten vor dem ersten Mordanschlag hat die selbsternannte Security-Truppe offenbar volltrunken verschlafen. Neben Bruder Hajo Taubert (Urs Jucker, Kleine Prinzen) gerät auch Konkurrenz-Unternehmer Gerald Schleibusch (Stephan Baumecker, Edel sei der Mensch und gesund) ins Visier der Ermittler, so dass der Der König der Gosse als Kreuzung aus Milieustudie und klassischem Whodunit passabel funktioniert, doch der Film krankt an zwei entscheidenden Schwächen: Spannend ist der humorvoll angehauchte Krimi selten, und sämtliche Obdachlosen sind überzeichnete Witzfiguren, die bei einem Hungerstreik im Präsidium sogar der Lächerlichkeit preisgegeben werden ("Gleich, wenn ich das hier aufgegessen habe!"). Der von Hauptdarstellerin Alwara Höfels betonte ernsthafte Anspruch des Films wird dadurch untergraben: Wie sehr es der Milieuskizze an Tiefgang fehlt, zeigt zum Beispiel der Vergleich zum Berliner Beitrag Das Muli oder zum Dortmunder Tatort Hydra. Wie von vorgestern klingen zudem die müden Diskurse über die Rolle von Mann und Frau, die kaum dazu beitragen dürften, dass das erste weibliche Ermittlerduo der Tatort-Geschichte sein Emanzen-Image beim TV-Publikum schnell wieder los wird. Einen doppelt ärgerlichen Verlauf nimmt der Film in diesem Zusammenhang kurz vor der Auflösung: Auf die Spur des Täters gelangt Schnabel nur, weil er den starken Mann markiert - was dem sprichwörtlichen "schwachen Geschlecht" nicht geglückt ist, gelingt dem Chauvi-Chef problemlos, weil er mit der Faust auf den Tisch haut. Doch hätte Schnabel den Zeugen schon zu Beginn entsprechend energisch befragt, wäre der 995. Tatort nach einer halben Stunde zu Ende gewesen. Dass die Standardlänge von 88 Minuten erreicht wird, liegt auch am ausführlich illustrierten Privatleben der Ermittler: Während Gorniak die Eskapaden ihres Sohnes Aaron (Alessandro Emmanuel Schuster) auf die Palme bringen, schlittert Sieland in eine Beziehungskrise mit ihrem Freund Ole Herzog (Franz Hartwig). Der Streit vor einem spontanen Abendessen mit den drei Obdachlosen ist zugleich die amüsanteste Szene in einem Dresdner Tatort, in dem sich Licht und Schatten die Waage halten.
Sieland: "Du bist doch der Erste gewesen, der mit so 'nem scheiß REFUGEES WELCOME-T-Shirt durch die Gegend gerannt ist!"
Herzog: "Aber EINHEIMISCHE WELCOME hab ich nicht angezogen!"
Bewertung: 5/10

Zahltag

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Folge: 996 | 9. Oktober 2016 | Sender: WDR | Regie: Thomas Jauch

So war der Tatort:

Bild: WDR/Thomas Kost
Konfliktlastig. Denn wie schon viele Dortmunder Tatort-Folgen zuvor steht auch Zahltag ganz im Zeichen teaminterner Querelen, die sich durch das von Oberkommissar Daniel Kossik (Stefan Konarske) angeleierte Disziplinarverfahren gegen Hauptkommissar Peter Faber (Jörg Hartmann) zuspitzen: Diesmal rückt dem vierköpfigen Team aus dem Ruhrpott der penible Vorzeigebeamte Johannes Pröll (Milan Peschel) von der Dienstaufsicht auf die Pelle und zitiert die Ermittler zu Einzelgesprächen vor seine Videokamera. Auch Martina Bönisch (Anna Schudt) und Nora Dalay (Aylin Tezel) müssen bei Pröll antanzen - halten sich beim Verhör über die zweifelhaften Methoden ihres Chefs aber bedeckt. Ganz anders Kossik: Der zieht ordentlich vom Leder und hat dabei wenig zu verlieren: Dass Faber ihm am Abend vor seinem Gespräch zum exzessiven Saufen überredet, unter seiner BVB-Bettwäsche genächtigt und gezielt einen gehörigen Kater bei Kossik heraufbeschworen hat, ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Das Tischtuch zwischen den beiden Streithähnen ist endgültig zerschnitten und auch ein späterer Annäherungsversuch verpufft ohne die erhoffte Versöhnung. Im Hinblick auf die horizontale Erzählstruktur wird dem Publikum in diesem Krimi, der sich seinen Titel mit dem gleichnamigen Berliner Tatort von 2004 teilt, einiges abverlangt: Wer den Tatort Kollaps von 2015 verpasst hat, in dem der besserungswillige Dealer Jamal (Warsama Guled) wohl von einem kriminellen Informanten Fabers erschossen wurde, dürfte die Gründe für das Disziplinarverfahren kaum in Gänze begreifen - darf sich aber trotzdem an knackigen One-Linern und köstlichen Dialogen erfreuen, die vor allem auf das Konto des soziopathischen Faber und des überkorrekten Pröll gehen.
Faber: "Und, heute schon 'nen Kollegen in die Tonne gekloppt?"
Pröll: "Wir machen alle nur unsere Arbeit, Herr Faber."
Faber: "Jaja, das haben die im Dritten Reich auch gesagt."
Kinostar Milan Peschel, der zuletzt im Frankfurter Meilenstein Weil sie böse sind als verzweifelter Vater und im spaßigen Münster-Tatort Der Hammer als mordender Möchtegern-Superheld glänzte, mausert sich in seiner sympathischen Rolle auch im 996. Tatort zum heimlichen Publikumsliebling und stiehlt fast jede Szene, in der er auftritt. Angesichts der zahlreichen offen schwelenden Konflikte bildet Pröll den willkommenen Ruhepol im Präsidium, in dem es nebenbei auch noch einen Mordfall aufzuklären gibt: Einleitend wird ein Rocker auf offener Straße erschossen, so dass sich Faber und Bönisch schon bald im Clubheim von dessen Gang wiederfinden, die es überhaupt nicht komisch findet, wenn Bönisch plötzlich ihre Dienstwaffe zückt ("Steck das Ding ein! Sonst sorg ich dafür, dass dich jeder hier noch fickt, bevor sie dich in den Phönixsee schmeißen."). Anders als den Saarbrücker Kollegen im thematisch ähnlich gelagerten, schrillen Totalausfall Eine Handvoll Paradies gelingt Stammautor Jürgen Werner (Kartenhaus) und Regisseur Thomas Jauch (Ein Fuß kommt selten allein) eine zwar nicht ganz klischeefreie, aber sehr unterhaltsame und glaubwürdige Skizzierung des Milieus, in dem vor Dienstmarken und polizeilicher Autorität keinerlei Respekt herrscht. Insbesondere Fabers kernige Auseinandersetzungen mit dem Rockerpräsidenten und Hundefreund Thomas Vollmer (Jürgen Maurer, Am Ende des Flurs) und die Drohgebärden des rabiaten Vizepräsidenten Luan Berisha (Oliver Masucci, mimte Adolf Hitler in Er ist wieder da) bringen Stimmung in die Bude, während der Nebenstrang der Handlung um eine geldwaschende italienische Baufirma eher dünn ausfällt. Die Auflösung und die Hintergründe des Mordfalls müssen in Zahltag aber ohnehin hinter den emotionalen Streitgesprächen der Kommissare zurückstehen: Wem die bisherigen Beiträge aus dem Ruhrpott zu viel Drama und zu wenig Krimi waren, der dürfte auch diesmal eine Enttäuschung erleben. Und einen Cliffhanger gibt es am Ende auch: Ein Wiedersehen mit Pröll scheint möglich, ein gebrochenes Nasenbein bei Faber ebenfalls - wie es mit ihm und Kossik weitergeht, ist die spannendste Frage in Dortmund, die 2017 endgültig geklärt wird. Dann nämlich verlässt Schauspieler Stefan Konarske auf eigenen Wunsch die Krimireihe - was dem WDR wiederum die Möglichkeit gibt, den reizvollen Konflikt auf die Spitze zu treiben und keine Kompromisse machen zu müssen. Man darf gespannt sein, wie das aussieht.

Bewertung: 7/10

Die Wahrheit

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Folge: 997 | 23. Oktober 2016 | Sender: BR | Regie: Sebastian Marka

So war der Tatort:

Bild: BR/X Filme/Hagen Keller
Frustrierend - und das für alle Beteiligten. Da ist zum einen Fallanalytikerin Christine Lerch (Lisa Wagner), deren fünfter Einsatz in München ihr letzter bleibt: Die gelegentlichen Gastauftritte waren nicht nur für Wagner, die auch als Kommissarin Heller im ZDF ermittelt, sondern auch für den BR unbefriedigend, und daher gehe man im Guten auseinander, wie der Sender betont. Drehbuchautor Erol Yesilkaya (Hinter dem Spiegel) findet dafür eine pragmatische Lösung: Wagner fühlt sich in ihrem Job unterfordert und heuert beim FBI an. Frustrierend ist der Fall aber auch für Assistent Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer), der Arbeit für drei leisten muss und bei der Gelegenheit seinen Gag aus dem vorherigen Münchner Tatort Mia san jetz da wo's weh tut wiederholt ("Kalli 1, Kalli 2, Kalli 3..."). Und frustrierend ist Die Wahrheit nicht zuletzt für die Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl), die bei der Suche nach eben jener auf der Stelle treten: Bei einem Spaziergang mit seiner Ehefrau Ayumi (Luka Omoto) und seinem sechsjährigen Sohn Taro (Leo Schöne) wird Ben Schröder (Markus Brandl) von einem Unbekannten mit einem Messer attackiert und erliegt seinen schweren Verletzungen. In den Blickpunkt rücken nach der auf einer wahren Begebenheit basierenden, bis heute unaufgeklärten Tat jene Personen, die in der Krimireihe sonst nur wenige Sätze sagen dürfen und schnell wieder in Vergessenheit geraten: die Augenzeugen. In einer köstlichen, parallel montierten Sequenz arbeiten sich die Ermittler durch die widersprüchlichen Aussagen all jener, die glauben, Die Wahrheit gesehen zu haben und sie im Inbrunst der Überzeugung zu Protokoll geben - doch am Ende sind Batic & Co. so schlau wie vorher. Selbst ein DNA-Test, bei dem das Geräusch der Scanner wunderbar in die Klänge des Soundtracks integriert wird, liefert keine brauchbaren Ergebnisse - dafür aber den selbstironischsten Dialog der altgedienten Kommissare.
Batic: "Bis wir von denen allen die DNA haben, sind wir grau."
Leitmayr: "Das Risiko gehe ich ein."
Der 997. Tatort ist ein ungewöhnlicher, und dennoch großartiger Beitrag aus München, der sofort Erinnerungen an Dominik Grafs Meisterwerk Frau Bu lacht, Alexander Adolphs herausragenden Tatort Der tiefe Schlaf oder Max Färberböcks Meilenstein Am Ende des Flurs weckt: Die überraschende Schlusspointe gehört zu den mutigsten der Tatort-Geschichte und dürfte nach dem Abspann nicht nur in den deutschen Wohnzimmern, sondern auch in den sozialen Netzwerken für Gesprächsstoff sorgen. Dort beantwortete das Social-Media-Team der Münchner Polizei während der TV-Premiere live die Fragen des Publikums - doch die alles entscheidende Frage konnten selbst die Experten nicht auflösen, weil die Filmemacher sie ganz bewusst offen halten. Frustrierend ist Die Wahrheit daher wohl auch für so manchen Zuschauer: Ein Tatmotiv gibt es nicht und eine Beziehung zwischen Täter und Opfer scheint ausgeschlossen. Statt Ermittlungen nach Schema F und einem Aha-Erlebnis bei der Suche nach der Auflösung entwickelt sich die Geschichte aus der Frustration und Ohnmacht ihrer Hauptfiguren heraus: Während Leitmayr als Leiter der Sonderkommission wegen der ausbleibenden Erfolge von seinem Vorgesetzten Karl Maurer (Jürgen Tonkel) zusammengefaltet wird, macht es Batic wahnsinnig, dass er der verwitweten Japanerin und ihrem kleinen Sohn nicht weiterhelfen kann. Irgendwann ist zwar klar, dass die Beantwortung der Täterfrage nur über die Aussagen der Augenzeugen führt - doch die Filmemacher halten einen Trumpf in der Hinterhand und führen ihr Publikum gekonnt aufs Glatteis. Auch mit Gänsehautmomenten geizt Regisseur Sebastian Marka (Das Haus am Ende der Straße) nicht: Neben dem beklemmenden Auftaktmord und der tollen Schlusspointe bleibt auch ein hochspannend in Szene gesetzter, nächtlicher Besuch im Haus der Witwe in Erinnerung, bei der ordentlich mitgezittert darf. Nicht nur deshalb kommt dieser herausragende Tatort der Perfektion sehr nahe und wirkt nach dem Abspann lange nach. Und wenn sich Batic und Leitmayr fast die Freundschaft kündigen und beim Versöhnungsbierchen in der Karaoke-Kneipe in Erinnerungen schwelgen (Verweis auf Der freie Fall und Ex-Assistent Carlo Menzinger inklusive), ist das für das Duo mit den meisten Tatort-Einsätzen überhaupt einer der bemerkenswertesten Momente seiner mittlerweile 25-jährigen Geschichte.

Bewertung: 9/10

Echolot

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Folge: 998 | 30. Oktober 2016 | Sender: Radio Bremen | Regie: Claudia Prietzel und Peter Henning

So war der Tatort:

Bild: Radio Bremen/Christine Schroeder
Zukunftsorientiert. Wie in jedem Jahr veranstaltet die ARD nämlich auch 2016 wieder eine Themenwoche, der sie in ihrem Programm vieles unterordnet - und da darf der Tatort am Sonntagabend nicht fehlen. In der Vergangenheit ging dieser Ansatz allerdings oft in die Hose - man denke nur an den Berliner Totalausfall Dinge, die noch zu tun sindoder den Kieler Durchschnittskrimi Borowski und eine Frage von reinem Geschmack. 2016 lautet das Motto Zukunft der Arbeit - und so verschlägt es die Bremer Hauptkommissare Inga Lürsen (Sabine Postel) und Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) in Echolot prompt in ein hippes Start-up-Unternehmen, das in Sachen Digitalisierung ganz vorne mitspielt. In der ausschließlich von überzeichneten Hipstern und Nerds betriebenen IT-Schmiede sieht alles genauso aus, wie man es sich vorstellt: Schräge Büromöbel und teure High-Tech-Geräte füllen die chaotischen Räume eines von außen tristen Backsteingebäudes (Stedefreund: "Hier wurde früher Kaffee geröstet."), auf den Designertischen der Think Tanks stehen neonfarbene Elektrolytgetränke und im Empfangsbereich findet sich sogar Platz für einen Käfig mit Kanarienvögeln. Nur einen Fahrstuhl gibt es in dem Gebäude nicht - was den Entwickler und Rollstuhlfahrer Paul Beck (Christoph Schechinger, Unter Druck) freilich nicht davon abhält, regelmäßig an Meetings im Obergeschoss teilzunehmen. Vielleicht verleihen die Drinks ja Flügel? Das würde zumindest den Firmennamen erklären: Alles in den heiligen Hallen von "Golden Bird Systems" (GBS) trieft vor Klischees und wirkt schrecklich künstlich - zum Beispiel dann, wenn "Chief Financial Officer und Board Member" (!) Kai Simon (Lasse Myhr, Frohe Ostern, Falke) stolz die Firmenphilosophie herunterbeten und für beeindruckte Blicke bei den Kommissaren sorgen darf.
Simon: "Wir haben hier Arbeitsflexibilität. Hauptsache, der Output stimmt."
Der 998. Tatort erzählt einen mutigen, aber ziemlich (w)irren Whodunit und fällt dabei deutlich weniger unterhaltsam aus als der tolle Stuttgarter Tatort HAL - die bis dato futuristischste Ausgabe der Reihe. So sehr die Digitalisierung die Arbeitswelt verändern und unseren Alltag erleichtern mag, so sehr scheint sie den Filmemachern diesmal das Geschichtenerzählen zu erschweren: Auch in Echolot finden sich viele Sci-Fi-Anleihen, die allerdings keine Spannungsmomente generieren. Vielmehr erweist sich der ewige Blick durch VR-Brillen, auf kryptische Zahlencodes oder wackelige Tablet-Videos auf Dauer als ziemlich zähe Angelegenheit. Passend zur Themenwoche scheint es den Drehbuchautoren Peter Henning (Ordnung im Lot) und Christine Otto in erster Linie ein großes Anliegen zu sein, ihrem Publikum die Schattenseiten des technischen Wandels vor Augen zu führen: Im Jahr 2016 ist (fast) alles digital vernetzt, was im Film auch dem Mordopfer zum Verhängnis wird. GBS-Mitgründerin Vanessa Arnold (Adina Vetter, Deckname Kidon) stirbt durch eine Manipulation der Steuerung ihres Wagens, lebt aber als digitale Kopie weiter: "Nessa" ist das Vorzeigeprojekt ihres Start-up-Unternehmens, doch der vermeintlich riesige Nutzen der lebensechten Animation bleibt bis zum Schluss nebulös. Weckte HAL dank Big Data sogar das Interesse des LKA, scheint Nessas wichtigste Funktion darin zu bestehen, die sexuellen Phantasien ihrer notgeilen Entwickler zu bedienen und auf dem lukrativen Pornomarkt Investoren auf den Plan zu rufen. Schwung in den Krimi bringt eher Linda Selb (Luise Wolfram), die sich deutlich kantiger gibt als die ähnlich technikaffine Ludwigshafener Kollegin und Nervensäge Johanna Stern (Lisa Bitter): Die ehrgeizige BKA-Kollegin, die auch in Zukunft zum Team zählen soll, zeigt Stedefreund nach dem Techtelmechtel in Der hundertste Affe die kalte Schulter, bringt ihn mit ihrer trockenen Art aber regelmäßig zum Staunen. Nennenswert aufwerten tut das den Krimi aber ebenso wenig wie die vorhersehbare Auflösung, zumal eine andere Figur ein Totalausfall ist: Die kleine Lilly Arnold (Emilia Pieske) fotografiert ihre tote Mutter mit dem Tablet und benimmt sich überaus seltsam - die hohe Technikaffinität der Verstorbenen und ihres im Silicon Valley (natürlich!) lebenden Vaters David Arnold (Matthias Lier, Allmächtig) wirkt als alleinige Erklärung für ihre rätselhafte Art der Trauer ziemlich dünn. Und Lürsens Vorgesetzte und Tochter Helen Reinders (Camilla Renschke)? Die darf exakt fünf Sätze sagen und wird im Bremer Tatort zielstrebig aufs Abstellgleis geschoben.

Bewertung: 3/10

Borowski und das verlorene Mädchen

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Folge: 999 | 6. November 2016 | Sender: NDR | Regie: Raymond Ley

So war der Tatort:

Bild: NDR/Christine Schroeder
Islamfixiert. Denn nicht zum ersten Mal halten radikale Muslime Einzug in die beliebteste deutsche Krimreihe: Im hochspannenden Hamburger Meilenstein Der Weg ins Paradies durchkreuzte zum Beispiel Undercover-Ermittler Cenk Batu (Mehmet Kurtulus) die Pläne islamistischer Massenmörder, während die Bundespolizisten Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) und Julia Grosz (Franziska Weisz) im sehenswerten Terror-Krimi Zorn Gottes einen Anschlag am Flughafen in Hannover verhinderten. Nun greifen die Tatort-Debütanten Charlotte Pehlivani (Drehbuch) und Raymond Ley (Regie) in Borowski und das verlorene Mädchen erneut ein brandaktuelles Thema auf: Die Radikalisierung junger Muslime ist im Herbst 2016 ein vieldiskutiertes Problem und beschäftigt daher auch die anschließende ARD-Talkrunde mit Anne Will. Den Fokus legen sie dabei aber nicht auf das Verhindern eines Terroranschlags: Statt die Kieler Hauptkommissare Klaus Borowski (Axel Milberg) und Sarah Brandt (Sibel Kekilli) bei einem Wettlauf gegen die Zeit nach einem Attentäter suchen zu lassen, beschäftigen sich die Filmemacher mit der Frage, was die intelligente deutsche Schülerin Julia Heidhäuser (Mala Emde, Schmuggler) dazu bringen kann, ihren bisherigen Werten abzuschwören und sich vom zweifelhaften Weltbild des sogenannten Islamischen Staats verführen zu lassen. Die Ermittlungen führen direkt in eine Moschee: Dort duldet der undurchsichtige Imam Abu Abdullah (Ferhat Keskin, Im Abseits) neben gemäßigten Muslimen auch den frisch aus der Haft entlassenen Gewalttäter Hasim Mahdi (Dogan Padar) und einen islamistischen Hassprediger, der sein krankes Gedankengut beinahe ungestört unters Volk bringen kann. Nach dem einleitenden Tod der umtriebigen Jungmutter Maria (Franziska Brandmeier), die sich bis zu ihrem Ableben am Hörer einer Sex-Hotline was dazu verdient hat, ermitteln die Kommissare aber noch an einer zweiten Front.
Brandt: "Sie haben da jetzt aber nicht mit Ihrem Diensthandy angerufen, oder?"
Borowski: "Doch, natürlich. Das war ja auch ein Dienstgespräch."
Unter dem Strich wird man das Gefühl nicht los, dass sich ein paar Nebenfiguren zuviel in diesem Krimi tummeln und die Charakterzeichnung mit Blick auf den zweiten Handlungsstrang fast zwangsläufig auf der Strecke bleiben muss: Borowski und Brandt, die in der ersten Krimistunde ein wenig lustlos wirken, müssen sich neben der Muslimin Amina Jaschar (Sithembile Menck), Julias Mutter (Patrycia Ziolkowska, Häuserkampf) und ihrem Bruder Nils (Sven Schelker) auch noch mit drei Mitschülerinnen der Toten auseinandersetzen - eine Annäherung an das Seelenleben dieser Figuren findet lediglich im Falle der verzweifelten Mutter statt. Als realitätsnahe Auseinandersetzung mit der Radikalisierung junger Muslime funktioniert der 999. Tatort trotz kleinerer Klischeefallen allerdings ziemlich gut, wenngleich der Tod von Julias Vater als Auslöser für deren Sinneswandel und die damit einhergehende Aussicht auf eine Zwangsheirat etwas behauptet wirkt. Auf Betriebstemperatur kommen die Komissare aber erst nach dem Fund der obligatorischen zweiten Leiche, und auch die abrupte Auflösung der klassischen Whodunit-Konstruktion fällt wenig überzeugend aus: Am Ende scheint noch schnell ein/e Mörder/in herzumüssen, dabei hätte die viel interessantere Geschichte um Julias geplante Reise in den Nahen Osten ohne den Auftaktmord kaum schlechter funktioniert. Und dann ist da noch ein prominenter Gaststar: Der deutsche Hollywood-Export Jürgen Prochnow (Schlafende Hunde) mimt in Borowski und das verlorene Mädchen mit dem Staatsschutz-Kollegen Kesting wie schon viele andere Schauspieler vor ihm einen skrupellosen Störenfried einer höheren Behörde, der sich für den Mordfall kaum interessiert und alles seinen eigenen Interessen unterordnet. So lässt sich nach den Reibereien mit den Kommissaren mal wieder die Uhr stellen. Anders als die glänzend aufgelegte Jungschauspielerin Mala Emde, die bereits bei Meine Tochter Anne Frank mit Regisseur Raymond Ley zusammenarbeitete und für diese Hauptrolle den Bayerischen Fernsehpreis erhielt, wird Prochnow in seiner Rolle allerdings kaum gefordert - rechtfertigt in diesem ungewohnt mittelmäßigen Kieler Tatort aber zumindest den Auftritt von Kriminalrat Roland Schladitz (Thomas Kügel), der ansonsten wie das fünfte Rad am Wagen wirkt und natürlich sofort kuscht, wenn der einflussreiche Kollege im Präsidium aufschlägt.

Bewertung: 6/10

Taxi nach Leipzig

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Folge: 1000 | 13. November 2016 | Sender: NDR | Regie: Alexander Adolph

So war der Tatort:

Bild: NDR/Meyerbroeker
Würdig. Fast genau 46 Jahre nach der ersten Ausgabe der erfolgreichsten deutschen Krimireihe feiert diese nämlich ihr großes Jubiläum: Taxi nach Leipzig ist nicht nur ein herausragender Thriller, sondern - zumindest offiziell - die 1000. Tatort-Folge und trägt denselben Titel wie die erste mit dem knorrigen Hamburger Hauptkommissar Paul Trimmel (Walter Richter), der sich 1970 in die DDR aufmachte und dort eine kurze Fahrt im Taxi nach Leipzig absolvierte. Auch den gleichnamigen Jubiläumskrimi kennzeichnet eine lange Autofahrt und (bundes-)länderübergreifende Ermittlungsarbeit: Tingelte Trimmel seinerzeit über die ehemalige innerdeutsche Grenze nach West-Berlin und Leipzig, fahren die in Kiel und Hannover beheimateten NDR-Kommissare Klaus Borowski (Axel Milberg) und Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) aus der Nähe von Braunschweig gen Sachsen. Besser gesagt: Sie werden gefahren - von einem kaltblütigen Mörder. Am Steuer des Taxis, das Borowski, Lindholm und ihr älterer Kollege Sören Affeld (Hans Uwe Bauer, Großer schwarzer Vogel) nach Ende des zähen Tagesprogramms einer gemeinsamen Fortbildung besteigen, sitzt mit dem psychisch labilen Ex-Elitesoldaten Rainald Klapproth (Florian Bartholomäi, Weihnachtsgeld) eine fleischgewordene tickende Zeitbombe, die Affeld im Affekt das Genick bricht und die beiden Kommissare kurzerhand als Geiseln nimmt. Der traumatisierte Afghanistan-Rückkehrer hat nur noch eines im Kopf: Nach Leipzig fahren und seiner Ex-Freundin Nicki Lowkow (Luise Heyer) sagen, dass deren Verlobter Erik Tillmann (Trystan W. Pütter) bei einem Einsatz einen Befehl gegeben hat, bei dem Klapproth unschuldige Zivilisten töten musste. In bester Cosmopolis-Manier spielt der Großteil des Films im Inneren des Autos: Borowski und Lindholm versuchen sich an billigen Psychotricks und scheitern damit kläglich, was einige gekonnt platzierte Lacher generiert.
Lindholm: "Wieviele Amokläufe haben Sie denn schon erlebt?"
Borowski: "Ich habe eine Dokumentation gesehen."
Lindholm: "Ach ja? Welche?"
Borowski: "Die auf Arte."
Dass die Jubiläumsfolge nicht nur dem Stammpublikum großen Spaß machen dürfte, liegt neben dem Verzicht auf das erzählerisch oft einengende Whodunit-Prinzip auch an der steilen Spannungskurve: Regisseur und Drehbuchautor Alexander Adolph, der unter anderem die Tatort-Hochkaräter Der oide Depp und Der tiefe Schlaf konzipierte, stellt erneut sein Ausnahmekönnen unter Beweis und inszeniert mit Taxi nach Leipzig einen packenden Psychothriller, der neben Spannung und Witz auch Kult, Klasse und Herz mitbringt. Die Parallelen zu Martin Scorseses Meisterwerk Taxi Driver sind dabei nicht zu übersehen: Ähnlich wie Ex-Marine Travis Bickle (Robert DeNiro) lässt Klapproth den Zuschauer an seiner Wut teilhaben und sich selbst zu einer Bluttat hinreißen. Als es die Ermittler nach dem ersten (aber nicht einzigen) Wendepunkt der Geschichte mit Wölfen zu tun bekommen (eine tolle Anspielung auf den Meilenstein Borowski und das Mädchen im Moor), darf das Publikum dann auch in die Gedankenwelt von Borowski und Lindholm hineinhören. Verfeinert mit Italo-Western-Zitaten, atmosphärisch starken Horror-Anleihen und einem finsteren Soundtrack jagt ein Gänsehautmoment den nächsten: Der Mittelteil der 1000. Tatort-Folge gehört zum Spannendsten, was es bis dato in der Krimireihe zu sehen gab und mündet in ein dramatisches Finale, in dem die Filmemacher keine Kompromisse eingehen. Neben Filmemacher Adolph glänzt auch der Rest des erfolgserprobten Personals: Während Maria Furtwängler im Tatort für Quote und Axel Milberg für Qualität steht, mimte der erneut hervorragende Florian Bartholomäi unter anderem den Mörder der Familie des Dortmunder Kollegen Peter Faber (Jörg Hartmann) in Auf ewig Dein. Etwas enttäuschend sind allerdings die Cameo-Auftritte von Karin Anselm (verkörperte in den 80er Jahren die zweite weibliche Tatort-Kommissarin Hanne Wiegand), Hans Peter Hallwachs (spielte in Taxi nach Leipzig einst DDR-Oberleutnant Klaus) und Friedhelm Werremeier (Erfinder der Tatort-Folgen mit Hauptkommissar Trimmel), denen nicht einmal Text zugestanden wird. Ganz anders Günter Lamprecht, der ebenfalls im 1. Tatort zu sehen war und in den 90er Jahren als Hauptkommissar Franz Markowitz in Berlin ermittelte: Lamprecht darf die letzten Worte sprechen und bringt die großartige Jubiläumsfolge damit zu einem fast rührenden Abschluss.

Bewertung: 9/10

Es lebe der Tod

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Folge: 1001 | 20. November 2016 | Sender: HR | Regie: Sebastian Marka

So war der Tatort:

Bild: HR
Undurchsichtig. Und das nicht nur aufgrund der dunklen Brillengläser des charismatischen Bösewichts: Mit Es lebe der Tod liefert der Hessische Rundfunk erneut einen herausragenden, lange Zeit rätselhaften Tatort, in dem sich die Puzzleteile der Geschichte nach und nach zu einem großartigen Gesamtkonstrukt zusammenfügen. LKA-Kommissar Felix Murot (Ulrich Tukur) und seine Kollegin Magda Wächter (Barbara Philipp) treffen bei ihrem sechsten Einsatz auf einen kaltblütigen Serientäter: Arthur Steinmetz (Jens Harzer, Amour Fou) hat in Wiesbaden schon mehrere Menschen unter Drogen gesetzt und anschließend ins Jenseits befördert. Die neueste Leiche geht allerdings nicht auf sein Konto: Murot und Wächter haben selbst einen Mord inszeniert, um den Täter aus der Reserve zu locken und landen damit einen Volltreffer. Steinmetz geht den beiden nicht nur ins Netz, sondern gesteht auch alle anderen Taten und ist für den Rest des Films ihr Gefangener. Ähnlich wie im Berliner Tatort Machtlos entwickelt sich durch diesen Verzicht auf das Whodunit-Prinzip ein reizvolles Kammerspiel, bei dem sich Ermittler und Täter auf Augenhöhe begegnen, weil der Kriminelle ein As im Ärmel hat und seelenruhig darauf wartet, es auszuspielen. Trotz des subtilen Spannungsaufbaus und des auffallend ruhigen Erzählstils sind die Parallelen zu David Finchers Meisterwerk Sieben und ähnlich gelagerten Psychothrillern dabei nicht zu übersehen: Führte im hochspannenden Hollywood-Klassiker der eiskalte Serienmörder John Doe (Kevin Spacey) das FBI selbst in Gefangenschaft noch an der Nase herum, ist es hier der bemerkenswert gelassene Steinmetz, der den Ermittlern ein Puzzleteil nach dem nächsten zuspielt und sich selbst nicht etwa als Mörder, sondern als Erlöser seiner zahlreichen Opfer sieht.
Steinmetz: "Haben Sie schon bemerkt, wie friedlich alle auf den Fotos aussehen? Fast lächeln? Keine Angst, keine Qual..."
Murot: "Weil sie einen Cocktail aus Barbituraten und Opiaten im Blut hatten. Da würde ich auch lächeln."
Wenngleich es mit einer späten Postzustellung im Präsidium sogar eine direkte Anspielung auf die krachende Schlusswendung in Sieben gibt, macht der Täter im 1001. Tatort aus seinem großen Ziel kein Geheimnis: Er möchte Murot töten - und ist felsenfest davon überzeugt, dass es ihm am Ende auch gelingen wird. Das Ableben des Kommissars scheint damit eine ernsthafte Option für den Ausgang der Geschichte: Spätestens seit der köstlich-selbstironischen Film-im-Film-Konstruktion Wer bin ich? ist in Wiesbaden nichts mehr unmöglich und das dramatische Finale somit vorprogrammiert. Zwischen Murot und seinem potenziellen Mörder entwickelt sich ein reizvolles, wenn auch lange Zeit aufs Verbale beschränktes Katz-und-Maus-Spiel, wobei die zielstrebig zugespitzte Konfrontation nicht ganz so spektakulär ausfällt wie die mit Bösewicht Richard Harloff (Ulrich Matthes) in der alles überragenden Shakespeare-Western-Italo-Oper Im Schmerz geboren. Doch auch der geständige Mörder in Es lebe der Tod bleibt nachhaltig in Erinnerung: Theaterschauspieler Jens Harzer drückt dem fesselnden Krimidrama mit einer tollen Performance seinen persönlichen Stempel auf. Aus den Augen des Antagonisten, der bei seinen Taten ähnlich unauffällig agiert wie Kult-Killer Kai Korthals (Lars Eidinger) aus Borowski und der stille Gast, schimmert neben Eiseskälte auch Unschuld und unerschütterliches Selbstvertrauen: Steinmetz strahlt eine rätselhafte Faszination aus, der man sich kaum entziehen kann. Auch hinter der Kamera leisten alle Beteiligten erstklassige Arbeit: Regisseur Sebastian Marka (Hinter dem Spiegel) knüpft handwerklich nahtlos an seinen bärenstarken Frankfurter Tatort Das Haus am Ende der Straße an, während Drehbuchautor Erol Yesilkaya (Alle meine Jungs) nach seinem Cliffhanger im Münchner Beitrag Die Wahrheit erneut Gesprächsstoff liefert. Immer wieder verwischen in diesem atmosphärisch dichten, von einem wunderbaren Soundtrack begleiteten Psychodrama die Grenzen zwischen Traum und Realität, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, was der Charakterzeichung dienlich ist: Während die Motive des Täters in dessen Kindheit liegen, darf Murot den Tod seines Vaters (Thomas Bartling) aufarbeiten, den er nie überwunden hat. Der Ermittlungsalltag rückt dadurch oft in den Hintergrund: Das Erarbeiten neuer Erkenntnisse wird oft mit wenigen Sätzen zusammengefasst, statt es in gewohnter Tatort-Manier ausführlich zu illustrieren. Wer schon die letzten Beiträge aus Hessen nicht mochte, wird daher auch mit diesem Film Probleme haben - aber Mainstream war der Tatort aus Wiesbaden, der 2016 das Maße aller Dinge in der Krimireihe bleibt, bekanntlich noch nie.

Bewertung: 9/10

Wofür es sich zu leben lohnt

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Folge: 1002 | 4. Dezember 2016 | Sender: SWR | Regie: Aelrun Goette

So war der Tatort:

Bild: SWR/Patrick Pfeiffer
Poetisch. "Das Leben ist flüchtig, flatterhaft, empfindlich. Eine ganz schöne Zicke ist das Leben. Alle wollen doch nur das Leben spüren, dieses kleine Luder", ertönen die weisen Worte aus dem Off, bevor Hauptkommissarin Klara Blum (Eva Mattes) und ihr Kollege Kai Perlmann (Sebastian Bezzel) die Krimireihe für immer verlassen - es ist nur eine von vielen poetischen Sequenzen in diesem von sanfter Melancholie durchzogenen, philosophisch angehauchten Abschiedsfall aus Konstanz. Wofür es sich zu leben lohnt - das ist die Frage, der sich auch Blum nach vierzehn Tatort-Jahren stellen muss: Ihr Herz macht nicht mehr mit, und so soll die Suche nach dem Mörder des ermordeten Rechtspopulisten Josef Krist (Thomas Loibl, Mord in der ersten Liga), der auf der Schweizer Seite des Bodensees in einem kleinen Ruderboot ans Ufer gespielt wird, ihre letzte bleiben. Auch Major Matteo Lüthi (Roland Koch) darf nach seinen bisherigen drei Einsätzen ein letztes Mal mitspielen: In seinem Kanton wurde ein windiger Anlageberater ermordet, und schnell wird klar, dass die beiden Fälle miteinander verknüpft sind. Regisseurin Aelrun Goette (Der glückliche Tod), die gemeinsam mit Sathyan Ramesh auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, setzt auf das gewohnte Whodunit-Prinzip, nimmt es mit den ungeschriebenen Gesetzen der Krimireihe aber nicht allzu genau: Wofür es sich zu leben lohnt ist ein bewusst überhöhter, faszinierender Tatort, der als Auseinandersetzung mit elementaren Fragen unseres Daseins genauso gut funktioniert wie als Krimi. Am Ende der Straße, in einem Haus am See, endet der Kriminalfall und beginnt das Leben - denn dort wohnen die drei weisen Damen Catharina (Hanna Schygulla), Margarethe (Margit Carstensen) und Isolde (Irm Hermann, Gesang der toten Dinge), die Blum den Weg weisen möchten und den eigenen Frieden längst gefunden haben.
Blum: "Wo waren Sie gestern Abend?"
Margarethe: "Na hier? Wo sonst? Das da draußen ist doch nicht mehr unsere Welt."
Mit den drei älteren Frauen trifft Blum auf Schwestern im Geiste, die ihr schon nach wenigen Sätzen näher zu sein scheinen, als es Perlmann in zwölf gemeinsamen Dienstjahren je war. Schygulla, Hermann und Carstensen haben sichtbar Spaß an ihren überzeichneten Rollen und mausern sich mit köstlichen One-Linern und augenzwinkerndem Spiel zu den heimlichen Publikumslieblingen im 1002. Tatort: Allein das Zusammenspiel der früheren Fassbinder-Schauspielerinnen, zu denen bekanntlich auch Eva Mattes zählt, ist das Einschalten wert und macht die eher flache Spannungskurve mehr als wett. Man muss kein Prophet sein, um früh vorauszusehen, dass der Weg zur Auflösung nur über die Villa am See führt - was genau sich zugetragen hat, halten die Filmemacher aber bis in die Schlussminuten offen. Deutlich zu kurz kommen allerdings die parallel laufenden Ermittlungen auf der anderen Seite des Bodensees: Außer einem kurzen Hausbesuch bei einer im Kill Bill-Stil gekleideten Millionenerbin (Sarah Hostettler, Schwanensee) bringen Lüthi und seine Kollegin Eva Glogger (Isabelle Barth) nicht viel zustande - stattdessen ist der Schweizer Major oft mit Perlmann unterwegs, denn Blum ist in erster Linie mit sich selbst beschäftigt. Das Männerduo harmoniert prächtig und bringt nicht nur bei den Verhören von Krist-Witwe Anna (Julia Jäger, Narben) und Krist-Tochter Marie (Paula Knüpling) die nötige Dynamik ins Geschehen - und so stellt sich am Ende die Frage, ob man die beiden nicht schon früher gemeinsam auf Täterfang hätte schicken sollen, statt Lüthi im zähen Historienkrimi Chatêau Mort bei Kerzenschein und Rotwein mit Blum anbandeln zu lassen. Begleitet von den Klängen klassischer Musik, gekonnt inszeniert und spürbar von Hannibal inspiriert, entlädt sich der poetische Diskurs über die Sünden, Rückschläge und Sinnhaftigkeiten im Leben schließlich in einem überraschend harten Schlussakkord, wie man sich ihn in den oft seichten Tatort-Folgen aus Konstanz gewünscht hätte: Schwachen Folgen wie Todesspiel, Letzte Tage oder Winternebel stehen rückblickend neben viel Mittelmaß auch tolle Beiträge wie Der Polizistinnenmörder, Herz aus Eis oder Rebecca gegenüber. "In der Provinz liegt das wahre Grauen. Wenn wir versucht haben, einen auf städtisch zu machen, ging das meistens in die Hose", ließ Sebastian Bezzel im Wie war der Tatort?-Interview selbstkritisch durchblicken - Wofür es sich zu leben lohnt passt in keine der beiden Schubladen. Und auch in keine andere.

Bewertung: 7/10
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