Folge: 1236 | 7. Mai 2023 | Sender: NDR | Regie: Friederike Jehn
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Bild: NDR/ARD/Thorsten Jander |
So war der Tatort:
Telefonisch.
Denn der achte gemeinsame Tatort mit Hauptkommissar Klaus Borowski (Axel Milberg) und seiner Kollegin Mila Sahin (Almila Bagriacik) fühlt sich phasenweise an wie ein Hörspiel – und dürfte der Tatort sein, in dem so viel telefoniert wird wie in keiner zweiten Ausgabe der Krimireihe. Nicht von ungefähr wurde er unter dem Arbeitstitel Borowski und die Frau am Telefon gedreht.
Wieder und wieder klingelt das Smartphone des Kieler Kriminalisten, doch ist sein Abnehmen mit den Worten "Ich höre", die sich zu einem der berühmtesten Tatort-Zitate gemausert haben, beim ersten Klingeln nur ein verzweifeltes Röcheln. Borowski liegt in der 1236. Tatort-Folge mit dickem Verband und schwerer Kopfverletzung auf der Intensivstation – und wir haben in den Auftaktminuten noch keinen blassen Schimmer, wer ihm da hinterrücks den Schädel eingeschlagen hat. Nun ist ein Mädchen namens Finja am Apparat, das offenbar entführt wurde. Nanu?
Auch Sahin, die sich Vorwürfe macht und Borowski am nächsten Tag mit Kriminalrat Roland Schladitz (Thomas Kügel) in der Klinik besucht, ist irritiert und entgeistert. Wenige Stunden zuvor hatte sie mit ihrem Chef noch einige Berufsschüler befragt, weil in der Nähe von deren Schule eine Passantin von einer jungen Frau im Kapuzenpullover vor den Bus gestoßen wurde und verstorben ist. Hängen die Vorfälle zusammen?
Das Autorenduo Eva und Volker A. Zahn (Abbruchkante) wurde beim Festival des deutschen Films 2022 für sein erstklassiges Drehbuch ausgezeichnet, ebenso Friederike Jehn (Du allein) für die tolle Regie – und die Filmemacher fordern uns vor allem beim dramatischen Beginn ihres außergewöhnlichen Krimis. Wir brauchen ein paar Minuten, um die Handlungsfäden zu entwirren und die düsteren Flashbacks einzuordnen, die den mitgenommenen Borowski plagen. Eine blutige Badewanne, ein düsterer Score, Billie Eilish und das berühmte Pfeifen aus dem Whistle Song des Kill-Bill-Soundtracks – alles erst einmal ziemlich undurchsichtig. Aber zugleich sehr reizvoll.
Dann ergibt sich langsam ein Bild: Bei Finjas Entführerin handelt es sich um ihre eigene Schwester, die psychisch labile Celina (Caroline Cousin), deren Großmutter in ihrem Haus erstochen wurde. Und geht es nach Borowski, ist da noch ein dritter Mordfall zu beklagen. Schladitz hat nämlich Borowskis geliebten roten Volvo zu Schrott gefahren und schickt ihm ein Foto vom Schrottplatz samt Anschreiben mit entschuldigenden Worten ins Krankenhaus. Die Reaktion des Kommissars, der einst im Meilenstein Borowski und der stille Gast seinem altersschwachen VW Passat den Gnadenschuss gab, zählt zu den besten und zugleich lustigsten Momenten der Kieler Tatort-Geschichte.
BOROWSKI:Hä? Was ist das? Uäääh! Du Arschloch. Nein, das ist ja Mord!
Die unzähligen, oft selbstironisch angehauchten Telefonate in Borowskis Phone Office gipfeln in einer aberwitzigen Festnetz-Sequenz im Blumenshop der Klink und tun dem Unterhaltungswert und der Spannung keinen Abbruch. Im Gegenteil. Während Sahin die Hausbesuche übernimmt, Funkzellen auswertet und mit dem neuen Assistenten Ole Addo (Joel Williams) die fiebrige Fahndung nach Celina übernimmt, schaltet sich Borowski trotz Handicap vom Krankenbett aus ein. Solche Manöver kennen wir etwa aus dem vieldiskutierten Tschiller-Tatort Willkommen in Hamburg, dem mauen Münster-Tatort Mord ist die beste Medizin oder dem soliden Berliner Tatort Schweinegeld.
Logisch und realistisch ist das nicht immer – aber unheimlich wendungsreich und stets mitreißend. Borowski ist diesmal in anderer Rolle gefragt, er horcht ins Seelenleben des verzweifelten Mädchens, gibt sich feinfühlig, aber auch fordernd. Und muss am Ende doch einsehen, dass Sahin nicht die Einzige ist, die Fehler begeht. Seine Kollegin filetiert an der Front familiäres Versagen – etwa die existenzgefährdete Ehe von Simone (Alexandra Finder, Unter Kriegern) und Dennis Schuster (Jean-Luc Bubert, Wie alle anderen auch). Mit Blick auf Axel Milbergs nahenden Tatort-Ausstieg im Jahr 2025, über den wir → hier ausführlich berichten, tut der Alleingang der Figur sehr gut. Sie macht sich.
Borowski und die große Wut ist damit ein weiteres Highlight der daran wahrlich nicht armen Borowski-Ära, in dem die klassische Ermittlungsarbeit diesmal originell mit telefonischen Suspense-Momenten und grandiosen Gags kombiniert wird. Ob es die Romanze mit der musikalischen Tumorpatientin Maren (Sophie von Kessel, Mauerblümchen) in dieser Kreuzung aus Whodunit und Whydunit noch zwingend gebraucht hätte, möge jeder für sich selbst entscheiden – als Klavierspielerin hätte sie vielleicht besser zu Felix Murot (Ulrich Tukur) gepasst.
Bewertung: 8/10
👋 Bye, bye, Borowski: Alles zu Axel Milbergs Tatort-Ausstieg
🎥 Drehspiegel: So geht es im Kieler Tatort weiter
📅 Ausblick: Dieser Tatort läuft am nächsten Sonntag